Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
nicht beklagen, dass ihnen damit etwas entzogen würde, was sie moralisch verdienen.
Ein gerechtes System gewährt also das, worauf die Menschen einen Anspruch haben; es erfüllt ihre berechtigten Erwartungen, die sich auf die gesellschaftlichen Institutionen gründen. Doch ihre berechtigten Ansprüche sind nicht proportional zu ihrem inneren Wert, sie hängen nicht einmal von ihm ab. Die Gerechtigkeitsgrundsätze, die die Grundstruktur (…) bestimmen, erwähnen das moralische Verdienst nicht, und die Verteilung richtet sich keineswegs nach ihm. 22
John Rawls verwirft den Anspruch auf das uns moralisch Zustehende als Grundlage der Verteilungsgerechtigkeit aus zwei Gründen. Erstens könne ich es mir nicht vollständig selbst zurechnen, wenn ich über Talente verfügen würde, die es mir ermöglichten, erfolgreicher am Wettbewerb teilzunehmen als meine Konkurrenten. Ebenso entscheidend sei jedoch zweitens, dass die Eigenschaften, die eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt honorierte, ebenfalls zufällig seien. Selbst wenn ich meine Talente als mein Eigentum beanspruchen könnte, gälte immer noch, dass die durch diese Talente eingefahrenen Belohnungen von den Zufälligkeiten aus Angebot und Nachfrage abhängen würden. In der Toskana des Mittelalters etwa wurden Freskenmaler sehr hoch geschätzt; im Kalifornien des 21. Jahrhunderts sind es die Computerprogrammierer – und so weiter.
Ob meine Fähigkeiten viel oder wenig einbringen, hängt davon ab, was die Gesellschaft gerade zufällig wünscht. Was als Beitrag zählt, wird von den Eigenschaften bestimmt, die im Moment gefragt sind. Sehen wir uns folgende Lohnunterschiede an:
In den USA verdient ein Lehrer im Durchschnitt 43 000 Dollar pro Jahr. David Letterman, Gastgeber einer Late-Night-Show, verdient jährlich 31 Millionen Dollar.
John Roberts, Vorsitzender am höchsten Gericht der USA , erhält 217 400 Dollar jährlich. Judge Judy (die Hauptperson einer TV -Gerichtsshow bei CBS ) verdient mit ihrer Reality-Show 25 Millionen Dollar im Jahr.
Sind diese Unterschiede in der Bezahlung fair? Für Rawls würde die Antwort davon abhängen, ob sie in einem System der Besteuerung und Umverteilung zustande kommen, das sich zugunsten der am stärksten Benachteiligten auswirkt. In diesem Fall hätten David Letterman und Judge Judy ein Anrecht auf ihre Einkünfte. Man kann jedoch nicht sagen, dass Judge Judy es verdiene, hundert Mal mehr einzunehmen als der Vorsitzende Richter Roberts, oder dass Letterman es verdiene, siebenhundert Mal mehr einzunehmen als ein Lehrer. Die Tatsache, dass sie zufällig in einer Gesellschaft leben, die riesige Summen an Fernsehstars verschwendet, ist für sie ein Glücksfall, aber nichts, was sie verdienen.
Wer erfolgreich ist, übersieht oft diesen Zufallsaspekt seines Erfolges. Zum Glück besitzen viele von uns wenigstens in gewissem Umfang Eigenschaften, die unsere Gesellschaft schätzt. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist es hilfreich, unternehmerischen Elan zu haben. In einer bürokratischen Gesellschaft nützt es einem, dem Vorgesetzten um den Bart gehen zu können. In einer Gesellschaft der Massendemokratie hilft es einem, wenn man im Fernsehen gut aussieht und sich in kurzen, oberflächlichen Sprüchen äußert. In einer streitbaren Gesellschaft ist es hilfreich, Jura zu studieren und in den Debattierklubs zu glänzen.
Wir selbst können nichts dafür, dass die Gesellschaft solche Dinge hoch bewertet. Nehmen wir an, wir lebten mitsamt unseren Talenten nicht in einer technologisch hoch entwickelten, durch juristische Auseinandersetzungen geprägten Gesellschaft, sondern unter Jägern und Kriegern – in einer Gesellschaft, die Prestige und Belohnungen an Menschen mit großer Körperkraft oder religiöser Frömmigkeit vergibt. Was würde dann aus unseren Talenten werden? Sie würden uns eindeutig nicht besonders weit bringen. Und zweifellos würden einige von uns andere Talente entwickeln. Aber wären wir dann weniger wertvoll oder weniger tugendhaft als jetzt?
Rawls verneint das. Wir würden vielleicht einen kleineren Teil vom Kuchen abbekommen, und das wäre auch angemessen. Doch obwohl sich unser Anrecht nun verringert hätte, wären wir nicht weniger wertvoll als andere oder würden weniger »verdienen«. Das gilt ebenso für alle Gesellschaftsmitglieder, die weniger von den Talenten besitzen, die unsere Gesellschaft zufällig belohnt, und deshalb keine prestigeträchtige Stellung einnehmen.
Demnach haben wir
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