Gerettet von deiner Liebe
betrachten. Das Aquarell einer Orchidee, deren dunkelrote Blütenblätter sich aus einem tiefen Kelch öffneten, mit winzigen Nektarperlen benetzt.
„Kindertränen“, las er die geschwungene Inschrift darunter. Die Matrosen auf der Orion, ausgehungert nach Frauen, hatten eine andere Bezeichnung dafür gehabt, dachte er lächelnd. Sie hatten die Orchidee Jungfernschoß genannt. In diesem noblen englischen Herrenhaus hing ein Bild einer geradezu lüstern geöffneten, zur Bestäubung bereiten, exotischen Blume. Höchst amüsant.
„Sie hatten wohl eine andere Bezeichnung für diese Orchideenart“, stellte Susannah fest.
Erstaunt drehte James sich um. Durfte eine Dame eigentlich eine so scharfe Beobachtungsgabe haben? „Ja, wir hatten einen anderen Namen dafür.“ Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Aber selbst wenn Sie mir Bambusspieße unter die Fingernägel treiben, verrate ich ihn nicht.“ Er schlenderte zum nächsten Bild. „Wer hat sie gemalt?“
„Der Zeichner, der meinen Patenonkel auf der Endeavour begleitete“, erklärte sie. „Sydney Parkinson.“
James bestaunte die Aquarelle. Er hatte von Parkinsons Il lustrationen gehört und vermutete, dass sie alle in den Archiven des Britischen Museums verschwunden waren. Der bedauernswerte Parkinson war von einem Tropenfieber in Batavia dahingerafft worden, wo die Endeavour einige Wochen vor Anker lag, um für die Rückreise ausgebessert und überholt zu werden.
Susannah trat neben ihn. „Sir Joe weiß, dass die Bilder eigentlich dem Museum gehören, und alle paar Jahre verspricht er, sie zurückzugeben, aber wie Sie sehen, hängen sie immer noch hier.“
„Es sind seine alten Freunde“, sagte James. Er betrachtete noch einige der Kunstwerke. Und plötzlich fühlte er sich in die Südsee zurückversetzt, wo er jeden Tag einen Strich in die Baumrinde geritzt und sich gefragt hatte, wie dieser Tag wohl enden würde. Sein Atem beschleunigte sich, sein Herzschlag begann zu jagen.
Als er nach Susannahs Hand griff, erschrak sie nicht und versuchte auch nicht, sie ihm zu entziehen.
„Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, fünf Jahre ohne einen anderen Menschen zu verbringen?“
Zu seiner Verblüffung legte sie ihre andere Hand warm und weich an seine Wange, als ahne sie, wie sehr er sich nach einer menschlichen Berührung sehnte. Eine tröstliche Wärme durchflutete ihn. „Verzeihung“, murmelte er.
„Kein Grund, sich zu entschuldigen, Mr. Trevenen“, sagte sie sanft. „Hätte ich fünf Jahre die Schrecken der Einsamkeit durchgemacht, würde auch ich nie wieder allein sein wollen.“
„Das ist es“, bestätigte er. „Sie verstehen mich.“ Er brachte ein verkrampftes Lachen zustande. „Ihr Vater vermutete in dem Gast, der ihm aufgezwungen wurde, einen Tattergreis, den sein tropisches Paradies zerrüttet hat. Damit hat er gar nicht so unrecht, nicht wahr, Mrs. Park?“
„Nein, hat er wohl nicht“, entgegnete sie sachlich. „Aber wie ich meinen Vater kenne, schreibe ich diesen Scharfblick purem Zufall zu.“
In diesem Augenblick eilte Lady Dorothea herbei und hielt James ein Buch hin. „Bitte, Mr. Trevenen. Nehmen Sie es mit. Wenn Joseph sich besser fühlt, wird er nach Ihnen schicken.“
Der Diener erschien und verkündete: „Ma’am, die Equipage ist vorgefahren.“
„Dann solltet ihr zwei euch auf den Weg machen.“ Lady Dorothea scheuchte die beiden vor sich her. „Noah bürstet Neptun in der Bibliothek, und später kümmern Sophia und ich uns um ihn. Nun los! Und viel Vergnügen.“ Damit ging sie davon.
James bemerkte Susannahs Zögern, als habe ihr Selbstvertrauen sie plötzlich im Stich gelassen. „Kopf hoch!“, raunte er. „Wir haben diesen Besuch bald hinter uns.“ Er legte seine Hand an ihre Wange, die sich zart und weich anfühlte, und konnte nicht widerstehen, sanft mit dem Daumen darüberzustreichen in einer höchst ungebührlichen Geste, die sie allerdings als das zu nehmen schien, was er damit beabsichtigte: Er wollte sie beruhigen und ihr Mut machen.
„Nun gut, Mr. Trevenen“, sagte sie tapfer und entzog sich ihm mit einer anmutigen Kopfdrehung. „Wir wollen Sir Percival nicht warten lassen.“
An der offenen Tür zur Bibliothek verharrte sie und beobachtete Noah, der den großen Hund hingebungsvoll striegelte, während Neptun genüsslich auf dem Rücken lag und alle viere von sich streckte. „Wir bleiben wirklich nicht lange, nicht wahr?“, flüsterte sie, ohne den Blick von ihrem
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