Gerissen: Thriller (German Edition)
drängte weiter, bis Claudette keinen Ausweg mehr hatte.
»Was hast du mit mir vor?«, fragte Claudette.
»Gar nichts, wenn du mir die Wahrheit sagst«, antwortete Ivy.
»Wahrheit?«, wiederholte Claudette.
Aus dem Augenwinkel sah Ivy etwas an der Wand. Es lenkte sie einen Moment ab.
»Über was?«, fragte Claudette, kurz vorm Heulen. »Sieh mich nicht so an.«
Doch Ivy hatte keine Kontrolle über ihren Gesichtsausdruck. »Warum soll Betty Ann dir vergeben?«
»Das hab ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich vergebe ihr. «
»Außerdem hast du gesagt: ›Vielleicht vergibt sie mir dann auch.‹«
»Das habe ich nie –«
»An dem Abend, als du betrunken warst und gesagt hast, mein Buch würde nichts werden.«
»Betrunken? Daran kann ich –«
»Mir ist egal, ob du dich erinnern kannst«, schnauzte Ivy. »Warum willst du ihre Vergebung? Was hast du getan?«
»Nichts. Ich habe gar –«
Ivy schlug Claudette mit dem Handrücken ins Gesicht. »Lüg mich nicht an.«
Claudette brach in Tränen aus und sank auf die Toilette. Der Sitz war hochgeklappt, und sie plumpste hinein. »Ich lüge nicht.«
Ivy hob wieder die Hand.
Claudette zuckte zurück. »Was willst du denn von mir hören? Dass ich es ihm gesagt habe?«
Ivy stand über ihr.
»Okay, so war es«, sagte Claudette; und viel zu spät erkannte Ivy, dass nichts jemals wieder so sein würde wie zuvor. »Vance hatte das Recht, es zu erfahren«, fuhr Claudette fort. »Genau wie du gesagt hast.«
»Das war am Tag des Überfalls«, sagte Ivy.
»Am Tag des Überfalls?«, wiederholte Claudette.
Ivy hob die Stimme. Claudette fuhr zusammen. »Dass du es Harrow erzählt hast.«
»Wie sich dann herausstellte«, antwortete Claudette. »Der blöde Scheißtag.« Ihr Blick irrte umher. »Und direkt danach habe ich auch noch Frank angerufen, wenn du die ganze Wahrheit wissen willst.«
Das begriff Ivy nicht. Claudette hatte ihre Schwester mit Frank überrascht: Frank wusste, dass sie Bescheid wusste. »Um ihm was zu erzählen?«, fragte sie.
Claudette biss sich auf die Lippe. »Dass ich ihn und Betty bei Harrow verpfiffen habe.« Sie mied Ivys Blick. »Warum sollten alle anderen ungeschoren davonkommen? Ich hab ausgeteilt wie jeder andere auch. Ich war jung, ich hatte noch Träume.«
Ivy ließ die Faust sinken. Es war ein reiner Willensakt. Sie trat zurück, sah wieder zur Wand. Dort hing ein ovaler Rahmen mit einem alten fleckigen Foto: zwei kleine Mädchen in Partykleidern, eins mit unscheinbarem Gesicht und glatten Haaren, das andere hübsch und mit Löckchen. »Hatte Betty Ann Locken?«
»Sie glättete sie, als sie älter wurde«, antwortete Claudette schniefend.
Claudettes Haus war alt, nicht modernisiert, die Toilette wurde mit einem Schlüssel verriegelt. Ivy schloss Claudette ein und warf draußen den Schlüssel so weit fort, wie sie konnte.
Der Morgen brach an, als Ivy die Ransom Road hinauffuhr, nach rechts abbog, die zweikommavier Meilen zurücklegte, die sie zuvor gemessen hatte, den Feldweg in den Wald fand. Um eine Kurve, eine Steigung hinauf, und dort stand das kleine, von Bäumen umschlossene Haus mit dem verblichenen Zu-Verkaufen-Schild davor: das Haus, in dem Harrow mit Betty Ann gelebt hatte. Er hatte eifrig Staub gesaugt, als Ferdie Gagnon gekommen war, um ihn zu holen.
Ivy lief zur Rückseite und versuchte es an der Hintertür. Abgeschlossen, doch die obere Hälfte war in kleine Fenster unterteilt. Sie hob einen Stein auf und warf eine der Scheiben ein: ein zerschmettertes Fenster, genau wie das in Hütte eins, ehe Jean Savards Schrotflinte ins Spiel kam. Ivy griff nach innen und öffnete.
Sie trat ein, lief im Haus umher, alle Räume kahl und leer. Schließlich landete sie in der Küche. Über der Spüle spann eine Spinne ein großes Netz; das Morgenlicht fing sich in den Fäden. Ivy öffnete die Tür zum Keller und starrte die verstaubte Holztreppe hinab. Sie drückte auf den Schalter, erinnerte sich, dass er nicht funktionierte; erinnerte sich außerdem, was sie zuvor dort unten gesehen hatte.
Ivy stieg die Treppe hinunter, durch Schwaden der Dunkelheit. Durch ein verstaubtes Fenster hoch in der Wand fiel schwaches Licht auf den Stapel Betonblöcke auf dem Lehmboden: ein vier Block hoher Stapel bedeckte eine Fläche von ungefähr zwei mal ein Meter. Ivy hob einen nach dem anderen hoch und warf ihn zur Seite. Staub stieg auf und wirbelte im Licht. Sie erreichte den nackten Boden.
Ivy sah sich um: keine Schaufeln, überhaupt kein
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