Gerissen: Thriller (German Edition)
sich an einer verrosteten, schartigen Stelle des eisernen Senkrechtbalkens festhalten wollen und dabei in die Hand geschnitten. Ivy leckte das tröpfelnde Blut ab. Nur ein kleiner Schnitt, nicht tief, unbedeutend. Sie kletterte wieder zu dem Felsvorsprung hinunter.
Und in diesem Moment bemerkte sie in einer Felsspalte eine beinah versteckte Öffnung. Eine leicht zu übersehende Öffnung, die dennoch groß genug war, dass ein Mensch ohne Schwierigkeiten hindurchkriechen konnte. Ivy ließ sich auf die Knie nieder und kroch hinein.
Sie traf auf eine schattige Fläche, nicht viel kleiner als einige Apartments in Brooklyn, Ivys eigenes eingeschlossen. Es roch staubig, nach alten Büchern, aber hier waren keine Bücher, überhaupt keine Gegenstände. Außer diesem Ding mit roter Spitze zu ihren Füßen. Ivy griff danach, hielt es für einen Lippenstift. Aber nein, kein Lippenstift. Es war Munition, eine dieser Schrotpatronen, nur die Messinghülse.
Ivy schaute sich um und entdeckte noch mehr, und nicht mal ein Fußabdruck auf dem Sandboden, doch konnte man sich leicht einen Jäger vorstellen, der während eines Sturms oder etwas Ähnlichem hier gefangen war. Sie trat hinaus ins Sonnenlicht. Eine Höhle; sie hatte eine Höhle entdeckt, wie eine dieser Figuren aus den Abenteuerbüchern, die sie in ihrer Kindheit so geliebt hatte. Ivy lief über den Vorsprung und schleuderte die Hülse mit aller Macht. Glitzernd und gleißend flog sie knapp über den Baumwipfeln dahin, dann verschwand sie mit einem Aufspritzen im Wasser, das zu winzig war, um es zu sehen. Aber total befriedigend. Ivy kraxelte von dem Felsvorsprung und machte sich auf den Weg nach unten, wobei sie ein- oder zweimal das Blut von ihrer Hand leckte. Vielleicht war sie ein wenig abgelenkt, denn sie dachte erst wieder an den Schlüssel zu Hütte vier, als sie schon meilenweit entfernt war. Ivy stopfte ihn ins Handschuhfach.
Auf dem Heimweg hielt sie in Albany – der Umweg war kaum erwähnenswert – und besuchte die Redaktion des Citizen.
»Ich suche nach Tony Blass«, sagte sie zu der Frau am Empfang.
Die Empfangsdame kaute auf ihrem Kaugummi. »Wen darf ich melden?«
»Es geht um eine Story, die er geschrieben hat.«
Die Empfangsdame sprach in ihr Headset. »Hier ist eine Besucherin wegen einer Story, die Sie geschrieben haben.« Sie lauschte einen Augenblick, dann wandte sie sich an Ivy. »Er fragt, welche Story.«
»Der Überfall auf das Gold Dust Casino«, antwortete Ivy.
»Sie sagt, der Überfall auf das Gold Dust Casino«, sagte die Empfangsdame. Sie lauschte wieder. »Er sagt, Sie sollen durchkommen. Das letzte Kabuff ganz hinten.«
Sie betätigte den Summer, und Ivy trat durch die Glastüren in die Nachrichtenredaktion. Ivy ging an einer Reihe Bürozellen vorüber, an einem Mann, der schnell auf seiner Tastatur tippte, einer Frau am Telefon, die sagte »Buchstabieren Sie das«, bis zu einem Mann in kurzärmeligem gelbem Hemd und leuchtend rotem Schlips am hinteren Ende, der mit dem Finger in einer Dose Mandelkonfekt stocherte. Er blickte auf.
»Tony Blass?«, fragte Ivy.
»Tony B. höchstpersönlich«, bestätigte er. Er reichte ihr eine Visitenkarte mit einer schmeichelhaften Karikatur seiner selbst und der Aufschrift: Tony B. und wie er die Welt sieht – montags, mittwochs und freitags in Ihrem Citizen.
»Ivy Seidel«, stellte Ivy sich vor.
Er notierte ihren Namen auf einem Block. »Sie haben etwas für mich?«
»Etwas für Sie?«
»Über die Gold-Dust-Story.« Tony pflückte ein wie Großbritannien geformtes Konfektstück aus der Dose und stopfte es in den Mund; ein winziger Krümel blieb unbemerkt in seinem Schnurrbart hängen. »Nachrichten werden nicht viel älter als die Gold-Dust-Saga – muss mindestens sechs Jahre her sein, dass ich zuletzt etwas dazu abgeheftet habe. Deshalb drängt es sich doch auf, dass Sie etwas haben.«
»Tut mir leid«, sagte Ivy. »Ich weiß nur das, was hier drin steht.« Sie hielt den »Casino-Mörder verurteilt«-Artikel hoch, den Sergeant Tocco ihr ausgedruckt hatte. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir mehr Informationen geben.«
»Worüber?«
»Über die ganze Story.«
»Warum?«, fragte Tony B.
»Ich dachte, Sie wüssten vielleicht mehr darüber, als Sie in dem Artikel geschrieben haben.«
»Oh, das tue ich«, erwiderte Tony B. »Ja, wahrhaftig. Und ich vermute, noch verdammt viel mehr. Aber meine Frage« – er warf einen Blick auf den Notizblock – »Ivy Seidel, lautet, warum
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