Gerissen: Thriller (German Edition)
nichts. Von ihrem Standort aus konnte sie ein blau uniformiertes Bein vom Knie abwärts sehen, den Absatz eines schwarzen Schuhs – eines Herrenschuhs – auf dem Boden, die Zehen nach oben, eine entspannte Haltung, vielleicht sogar eine Schlafposition. Ivy trat so leicht auf wie ein kleines Mädchen, als sie sich dem Bett näherte.
Harrow lag vollkommen reglos darauf, seine Augen reflektierten das gelbliche Licht. Keine Zeit zum Reden, und es gab sowieso nichts zu sagen. Ivy löste den Bolzenschneider vom Gürtel. Wäre es nicht klüger gewesen, vorher ein wenig damit zu üben? Vermutlich. Sie setzte den Schneider an.
»He!« Eine Männerstimme im Korridor. Ivy fuhr auf. Herzstillstand, Angstschauer, Blut, das in den Adern gefriert: Sämtliche Klischees, alle trafen zu.
Sie war kurz davor, zum Fenster zu rasen. Dann sagte der Mann: »Ich hab dich doch nicht geweckt, oder?« Stille. »Nicht viel. Hab Nachtschicht.« Stille. »Echt? Nicht mit diesem Trainer, nie im Leben.«
Keine Zeit, überhaupt keine Zeit. Ivy beugte sich vor, setzte den Bolzenschneider an der ihr am nächsten gelegenen Handschelle an und drückte die Schneiden fest zusammen. Die Klingen klickten und schnitten glatt hindurch.
»Hast du den Kerl im Tor gesehen? Beim Montagsspiel bekifft.«
Ivy lief um das Bett und durchtrennte die andere Fessel.
»Bestimmt fünfzig Schüsse.«
Harrow zog die Hände heraus und setzte sich auf. Seine nackte Schulter streifte ihre Brust. Ihre Temperatur stieg umgehend. Das war doch nicht möglich.
»Viel zu viel Politik.«
Harrow griff nach dem Infusionsschlauch und zog die Nadel aus seinem Arm. Blut tropfte heraus, wie indische Tinte auf Elfenbein.
»Das war vom ersten Tag an das Problem der Liga, zu viel Politik.« Stille. »Dieses Arschloch. Wann war das?«
Harrow befreite seine Beine von dem Laken; er trug Pyjamahosen, sonst nichts. Er schwang seine Beine über die Kante und erhob sich, stand neben Ivy. Sie formte lautlos die Frage okay? Harrow nickte.
Dann, als hätte sich sein komplettes Skelett aufgelöst, sank er zu Boden. Ivy erwischte ihn gerade noch rechtzeitig und dirigierte den Sturz aufs Bett. Sie fielen gemeinsam, ineinander verschlungen. Eine lose Kette klirrte gegen das Bettgestell.
»Wart mal ’nen Moment.«
Ivy langte nach dem Laken und zog es über sie, ließ nur Harrows Gesicht unbedeckt. Schritte: näherten sich; hielten inne; zogen sich zurück. Der Klappstuhl knarrte.
»Nichts! Diese beschissenen Nächte scheinen endlos.« Stille. »Überstunden? Willst du mich veräppeln?«
Ivy legte ihren Mund an Harrows Ohr. »Okay?«
Er drückte ihren Arm.
»Echt? Die mit den Titten?«
Sie stiegen vom Bett. Ivy hörte Harrow tief einatmen. Sie griff nach seinem Arm. Sie gingen durch das Zimmer zum Fenster, Harrow ein wenig unsicher. Sie tippte ihm auf die Schulter, zeigte nach draußen. Er stellte seinen nackten Fuß auf das Sims – einen kräftigen, gut geformten Fuß, wie sie selbst in diesem Moment nicht umhinkonnte, zu bemerken –, drehte sich mit einem leisen, doch schmerzerfüllten Stöhnen um und kletterte rückwärts hinaus.
Ivy streckte den Kopf nach draußen und beobachtete, wie er langsam die Leiter hinunterkletterte, auf jeder Sprosse eine kurze Pause einlegte, bis auf die paar letzten. Sehnen und Adern standen ihm wie Drähte aus Hals und Schultern hervor.
»Hätte nichts dagegen, selbst flachgelegt zu werden.«
Sie befestigte den Bolzenschneider an ihrem Gürtel, kletterte hinaus und schnell nach unten, ihre Hände und Füße berührten kaum die Leiter. Das Fenster über ihr war dunkel, auf der anderen Seite regte sich nichts.
Harrow berührte ihren Rücken. »Das Gras fühlt sich gut an«, sagte er.
»Verschwinden wir«, sagte Ivy.
»Die Leiter«, sagte Harrow.
»Wir nehmen die Leiter mit?«
»Gönnen wir ihnen das kleine Rätsel.«
Sie legten die Leiter auf den Boden, schoben sie zusammen. Ivy trug sie zurück zum Wagen, Harrow an ihrer Seite, der in den Himmel starrte. Die Wolkenbank schob sich über das, was von den Sternen übrig war.
Auf dem Besucherparkplatz stand nur noch der Saab. Sie befestigten die Leiter auf dem Dach, bedeckten sie mit der Plane und stiegen ein. Ivy steckte den Schlüssel in die Zündung, drehte sich zu Harrow. Er lächelte, wirkte wie ein glückliches Kind am Wandertag.
»Wohin?«, fragte sie.
Achtundzwanzig
M arokko«, sagte Harrow.
»Ist Betty Ann in Marokko?«, fragte Ivy.
Harrow lachte. Hatte sie ihn je lachen hören?
Weitere Kostenlose Bücher