Gerissen: Thriller (German Edition)
Falls ja, dann nicht so. Es war ein reizendes Lachen – weich, überrascht, unbefangen. »Marokko ist einfach ein Land, das ich immer schon mal sehen wollte«, erklärte er.
»Ich auch«, sagte Ivy.
»Na, dann mal los«, sagte Harrow.
Sie sahen sich in die Augen. Dann küssten sie sich; versanken in eine winzige Welt ganz für sich. Ivy hätte sich an Ort und Stelle die Kleider vom Leib reißen können.
Harrow entzog sich. »Keine Scheinwerfer, bis wir vom Parkplatz runter sind«, mahnte er.
Ja, dachte Ivy, dann mal los. Das hier war richtig, so fühlte es sich an. Sie stieß mit dem Wagen zurück, vollführte die schnellste, engste Drei-Punkt-Kehre ihres Lebens und fuhr über den Parkplatz, bremste ab, als sie zur Straße kamen.
»Nach links oder rechts?«, fragte sie.
»Hängt davon ab, wo Frankie ist«, antwortete Harrow. Ein Auto fuhr vorbei, die Scheinwerfer streiften seine nackte Brust, straffe Muskeln, Gänsehaut.
Ivy hielt an, betrachtete ihn, sah den dünnen Schweißfilm auf seiner Stirn. »Aber ich habe es dir doch gesagt – sie sind nicht zusammen. Ich war sogar bei seinem Haus. Die Frau, mit der er verheiratet ist, ist nicht Betty Ann.«
»Ich weiß«, sagte Harrow.
»Dann – dann weiß er, wo Betty Ann ist?«, fragte Ivy. »Stimmt das?«
»Daran besteht kein Zweifel.«
»Ich weiß, wo er wohnt und arbeitet«, sagte Ivy. »Aber sein momentaner Aufenthaltsort könnte …«
»Könnte was?«, fragte Harrow.
»Könnte New York sein.« Ivy berichtete ihm von ihrem Führerschein und wie Vic Mandrell und der Riese vor nur wenigen Stunden vor ihrem Mietshaus aufgetaucht waren.
»Bringen sie dich mit mir in Verbindung?«, fragte Harrow.
»Nein«, erwiderte Ivy.
Harrow hob die rechte Hand und wies nach Norden.
Ivy bog auf den Highway ab. »Montreal?«, fragte sie.
»Nicht ganz so weit«, sagte Harrow. »Wir lassen Frankie die Reise machen.«
»Und wie kriegen wir das hin?«, fragte Ivy. »Und wieso glaubst du, er würde uns sagen, wo Betty Ann ist?«
»Kinderleicht«, sagte Harrow, »es sei denn, er hätte sich sehr verändert. Hast du seine Nummer?«
»Nein«, erwiderte Ivy. »Aber Vic steht im Telefonbuch.«
»Fahr langsamer.«
Ivy bemerkte, dass sie über hundertfünfzig fuhr. Sie bremste auf normales Tempo herunter, während sie den Rückspiegel kontrollierte. Nichts. Ihr inneres Selbst bremste ebenfalls ein wenig. Schweigend fuhren sie eine Weile. Sie kannte den Begriff geselliges Schweigen, doch nicht das Gefühl selbst. Ein sehr gutes Gefühl, beinah unmöglich zu glauben, dass es zu einer Zeit wie dieser eintreten konnte, und deshalb sogar noch besser.
»Hinten liegen ein paar Klamotten für dich«, sagte sie.
»Ja?« Er drehte sich um und fand die Tüte von Marshall’s, den sie neben dem Baumarkt entdeckt hatte. Er nahm die Kleidungsstücke heraus – ein dunkelblaues Flanellhemd, weiße Boxershorts, dunkelblaue Baumwollsocken, Khakis, Turnschuhe von New Balance – und musterte sie im Schein des Armaturenbretts. »He«, sagte er mit weicher Stimme.
»Gefallen sie dir?«
»O ja.«
Harrow begann sich anzuziehen. Das bedeutete, dass er seine Pyjamahose ausziehen musste.
Sobald sie es bemerkte, stieg heißes, verzehrendes Verlangen in ihr auf, und in dem Moment, in dem er die Hose abstreifte, langte sie hinüber und griff seinen Schwanz, hätte sich um nichts in der Welt bremsen können. Er versteifte sich in ihrer Hand, rasend schnell. Er lachte, ein leises Lachen, in dem sie Entzücken las. Zwei getrennte Reaktionen; sie liebte beide.
»Ruf lieber Vic an«, meinte er.
Sie ließ ihn los, nahm ihr Handy und besorgte sich Vics Nummer von der Auskunft.
»Was soll ich ihm sagen?«
Harrow hatte sich umgezogen und knöpfte soeben das Hemd zu. Es war viel zu groß. »Sag ihm, dass du Frank treffen willst«, wies er sie an. »Um alles zu regeln.«
»Alles zu regeln?«
»Hundert Riesen klingen richtig.«
»Erpressung?«, fragte Ivy. »Wir versuchen, Geld von Frank Mandrell zu bekommen?«
»Das ist die Story«, erklärte Harrow. »Die wird er schlucken.« Er strich mit dem Handrücken über ihre Wange: elektrisierend. »Du bist doch diejenige, die mir was beibringen soll.«
»Über Storys?«
»Ja.«
»Darüber weißt du mehr, als ich je wissen werde«, sagte Ivy.
Er nickte, sagte nichts.
»Wo ist der Treffpunkt?«, fragte Ivy.
»Was glaubst du?«
Sie dachte einen Moment nach. Wenn es eine Story wäre, eine Story, um Frank hereinzulegen, damit sie Betty Ann fanden,
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