German Angst
Und alles war voller Blut, die Bluse, der Rock, die Hände, die Beine, der Teppich. Und ihr war schwindlig und es kam ihr vor, als hinge ihr die Haut in Fetzen vom Kopf. Wie soll ich das vor den Kunden verstecken, dachte sie, wie krieg ich den Boden wieder sauber, dachte sie, was hab ich bloß falsch gemacht, dachte sie, was hab ich denn mit deiner Entführung zu tun, Netty, ich hab doch nichts damit zu tun…
Dann fing sie an zu weinen und als sie fünf Minuten später damit aufhörte und den Kopf unter dem Stuhl hervorstreckte, kniete Rossi vor ihr und reichte ihr ein sauberes Handtuch.
5 16. August, 17.13 Uhr
I n den vier Stockwerken des Dezernats herrschte ein unaufhörliches Kommen und Gehen, auch wenn sich inzwischen kein Journalist mehr im Haus aufhielt. Die Eingangstür im Parterre war geschlossen worden, Fragen wurden nur noch telefonisch beantwortet, und zwar ausschließlich von Franz Obst, dem Pressesprecher, der ohne Rücksprache mit Karl Funkel keine aktuellen Auskünfte erteilte. Von den fünfundvierzig Mitgliedern der Sonderkommission Natalia gehörten zwanzig dem Dezernat 11 an, die übrigen kamen von anderen Dezernaten, alles in allem neunundzwanzig Männer und sechzehn Frauen, von denen sich die meisten aus früheren Einsätzen kannten. Es war weniger Hektik, die die Stimmung auf den Fluren und in den Büros prägte, als vielmehr extreme Emsigkeit und konzentrierte Eile. Die neuen Informationen, die über Bildschirm, Fax oder Telefon hereinkamen, mussten in möglichst kurzer Zeit sämtlichen zuständigen Kommissaren und Kommissarinnen zur Verfügung stehen. Da parallel die Fahndung nach Katharina Wagner weiterlief, gab es keinen Raum, in dem man in Ruhe einen Kaffee trinken und seine Gedanken ordnen konnte. Ständig stürzte jemand herein, stellte eine Frage oder suchte ein freies Telefon, tippte ein paar Sätze auf einer alten lärmenden Schreibmaschine oder drehte den Fernseher auf, um die Nachrichten zu verfolgen – so wie Tabor Süden. Er saß an seinem Schreibtisch, schräg gegenüber von Freya Epp, die in Abwesenheit von Sonja deren Schreibtisch benutzte, und sah eine Vorschau des TV- Magazins »Vor Ort«, das in zwei Minuten beginnen sollte.
Den Mann, der darin kurz in einem Interview mit Nicole Sorek gezeigt wurde, hatte er noch nie zu Gesicht bekommen, was vor allem daran lag, dass ihn dessen politische Ziele nicht im Geringsten interessierten. Zudem umgab den Mann die Aura des Unnahbaren. Seine Villa am Stadtrand war von Mauern und Stacheldraht abgeschottet genauso wie er selbst von seinen Leibwächtern, wenn er gelegentlich bei einer Wahlkampfveranstaltung seiner Partei auftrat. Dr. Ewald Voss war Gründer und allmächtiger Vorsitzender der Deutschen Republikaner, ein Immobilienmakler und Börsenspekulant mit Millionenumsätzen. In Ostdeutschland hatte er Hunderttausende von Mark in die Werbung investiert mit dem Ergebnis, dass seine Partei in den Landtag gewählt wurde.
»Ohne den«, sagte Freya, »gäbs keine halbwegs erfolgreiche Partei rechts von der CSU. Dabei denken die doch auch alle: Ausländer raus, Frauen hinter den Herd!«
»Sei mal still!«
»Wer die Deutschen Republikaner und die Entführer von Frau Horn in einem Atemzug nennt, schadet dem Ansehen Deutschlands«, sagte Voss und Nicole Sorek sagte in die Kamera: »Wir sehen uns – gleich!« Dann folgte Werbung.
»Der Führer und die Entführer«, sagte Freya. »Auf der Sitzung war auch einer vom Verfassungsschutz, der behauptet hat, eine derart geplante und durchgeführte Aktion traue er keiner der bisher bekannten rechten Gruppierungen zu. Großes Staunen. Immerhin ist es trotzdem passiert.«
»Können wir die Namen aller Mitglieder der rechten Parteien in Bayern herausfinden?«, fragte Süden.
»Auch die von der CSU?« Freya grinste ihn an und ihre Kulleraugen funkelten braun hinter ihrer roten Designerbrille.
»Nein, über unser System geht das nicht, aber ich kann unseren Verfassungsschützer anrufen.«
»Mach das bitte!« Er tippte seinen Bericht über die Vernehmungen von Ines Groß und Helga Ries weiter und Freya telefonierte. Nachdem er von Noltes Auto aus im Dezernat angerufen hatte, um sich von einem Kollegen Rossis Daten im Computer bestätigen zu lassen, und danach Rossis Alibi überprüft hatte, war er mit dem Taxi zu Sonja Feyerabend gefahren. Sie hatte immer noch hohes Fieber und Durst wie ein Walross. Für eine Unterhaltung war sie zu schwach und zu müde, sie fragte ihn nach dem Stand der
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