German Angst
schien nicht dorthin geflogen zu sein. Braga und Gerke vernahmen mindestens ebenso viele Personen wie ihre Kollegen in München, die sich in der Nachbarschaft des Ehepaars Scholze umhörten.
Die meisten hatten nichts Auffälliges bemerkt. Im Haus gab es einen Steuerberater, der ständig Besuch von Klienten bekam, außerdem wechselten die Mieter häufig, so dass einige den Taxifahrer noch nie gesehen hatten. Ein pensionierter Lehrer, der ein Stockwerk über dem ermordeten Ehepaar lebte, sagte, er habe zufällig auf dem Balkon gestanden, als ein Mann in einem braunen Anzug aus der Einfahrt kam und eilig zu seinem Auto ging, das er hundert Meter entfernt geparkt hatte. Es könne ein Opel gewesen sein, dunkle Farbe, meinte der Lehrer, dunkelblau vermutlich, er wusste es nicht genau. Auf das Kennzeichen habe er nicht geachtet, er habe nur etwas Luft schnappen und dann weiter an seinem Buch über Goethes Geschick als Politiker schreiben wollen. Vom Landeskriminalamt kam die Nachricht, dass die Schreibmaschine, die Weber und Epp in einer schwarzen Tasche gefunden hatten, jene war, auf der die Briefe der Kidnapper getippt worden waren.
»Uns läuft die Zeit davon«, sagte Funkel zu Thon. Sie erhielten alle neuen Informationen als Erste und jedes Detail wurde von ihnen diskutiert, bevor sie es im Computer katalogisierten. »Bis die Kollegen die Wohnung vollständig untersucht haben, können drei Tage vergehen. Und wenn die Entführer es mit der Angst gekriegt haben, verlieren wir die Kontrolle über unsere Maßnahmen.«
»Haben wir die Kontrolle nicht schon verloren?« Thon streifte die Asche seines Zigarillos in den Aschenbecher und betrachtete den Rauch, der sich aus der Glut kräuselte. Heute Morgen hatte ihn seine Frau gefragt, ob er noch an die Rettung von Natalia Horn glaube, und er hatte ihr keine Antwort gegeben. Das hatte ihn tief erschreckt.
»Wir finden die Frau«, sagte Funkel.
»Jemand ist gewarnt worden und dieser Jemand hat das Ehepaar ermordet«, sagte Funkel, »und gewarnt worden ist dieser Jemand aus unserem Dezernat.«
»Nolte wird beobachtet«, sagte Funkel.
»Und wenn wir uns täuschen?«
»Wir täuschen uns nicht.« Nach einem Schweigen, während dem er die Pfeife beiseite legte und sich an der Oberkante seiner Augenklappe kratzte, sagte Funkel:
»Wenn wir jetzt anfangen zu zweifeln, haben wir verloren. Wir werden Natalia Horn befreien, wir werden den Mörder des Ehepaars Scholze und der Katharina Wagner finden, wir werden diesen Fall zu einem guten Abschluss bringen.«
Thon nickte.
Das Telefon klingelte.
»Ja«, sagte Funkel in den Hörer und hörte zu. »Ich beeil mich.«
Er legte auf.
»Susan Felt sagt, ihre Schwester Katharina hatte einen heimlichen Liebhaber. Ich will selber mit ihr sprechen.«
»Viel Glück!«, sagte Thon.
»Übrigens«, sagte Funkel und zog sein rotes Sakko aus und ein schwarzes an, »ich hab mich entschieden. Arano wird im Fernsehen auftreten und zu den Entführern sprechen, die Sorek soll das machen.«
»Das ist falsch«, sagte Thon.
»Ich will nicht, dass Christoph Arano und seine Tochter weggeschickt werden wie Aussätzige. Ich will Druck auf bestimmte Leute ausüben. Arano wird vor die Kamera gehen und…«
»Es liegt nicht in unserer Hand, Karl!«, sagte Thon laut und stand auf.
»Wir müssen alles tun, um diese Situation zu verhindern. Außerdem hoffe ich, dass nach diesen drei Morden vielleicht die Front der Entführer aufweicht. Ich will, dass Arano noch heute Abend auftritt.«
»Und warum bei dieser sensationsgeilen Reporterin?«
»Sie hat die höchsten Einschaltquoten.«
»Wenn Arano im Fernsehen erscheint, schaut jeder zu, egal in welcher Sendung.«
»Ich will, dass er in der Sendung auftritt, in der die Leute ihn sonst beschimpfen und verachten. Ich will, dass er sich mitten auf den Marktplatz stellt und die grölende Menge zum Schweigen bringt.«
Thon sah seinen Vorgesetzten an. Was er soeben gehört hatte, erschien ihm wie das Gegenteil dessen, was ein vernünftiger Polizist in einer Krisensituation sagen und denken sollte.
»Was ist los mit dir?«, fragte er.
»Ich melde mich von unterwegs«, sagte Funkel und ließ den verwunderten Hauptkommissar, der sich absolut übergangen fühlte, allein im Büro zurück.
»Und der ganze Champagner?«, sagte sie und riss ihre blauen Augen so weit auf, dass Funkel und Weber fasziniert hinsahen. »Und der Hummer, den wir bestellt haben, und der Dampfer auf dem Starnberger See? Und die ganzen Gäste?
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