German Angst
versuchte sich Wort für Wort an Lucys Gedicht zu erinnern. Doch ihm fiel immer nur der letzte Vers ein: Denn sterben will er nicht.
Du wirst nicht sterben, dachte er, dein gutes Ich, das stirbt nicht, das wird dich beschützen, mehr als ich es kann. Der Gedanke an Lucys Gedicht erweckte sein versteinertes Gesicht. Und der Taxifahrer sah im Rückspiegel, wie Arano lächelte.
An der Ampel am Ende der Reichenbachbrücke überquerte eine blauhaarige Frau mit einem Hund an der Leine die Straße. Sie winkte dem Taxifahrer, der warten musste, weil sie zu langsam ging. Der Hund bellte laut.
»Bleib da!«, rief die Frau mit den blauen Stoppelhaaren.
»Komm sofort zurück! Komm her!« Der Hund hatte sich losgerissen und fetzte über die Wiese nahe der Isar. Er bellte und sprang in die Luft, warf sich auf den Rücken und wälzte sich im Gras.
»Was machst du denn?«, sagte Ines Groß, als er wieder um ihre Beine schwänzelte und sie die Leine nahm. »Du hast mich erschreckt, Dertutnix.«
Sie trug ihre schwarze Brille und wie immer den Rucksack mit dem gelben Button BOING! auf dem Rücken. Der Hund führte sie über die Wiese. Sie hörte den Fluss rauschen, Kinder schreien, Sirenen von Krankenwagen in der Ferne. Plötzlich knurrte der Hund.
»Was ist?« Und ehe sie die Leine festhalten konnte, riss sich der Hund erneut los und sprang einen Mann an, der ihm entgegenkam. Der Mann trat nach ihm und schlug um sich. Dertutnix bellte und knurrte und versuchte sich an der Hose des Mannes festzubeißen.
»Du Drecksköter!«, schrie der Mann. »Hau ab! Hau bloß ab, sonst säg ich dir den Schwanz ab!« Aus seiner Aktentasche holte er eine kleine grüne Säge und fuchtelte damit herum. Spaziergänger blieben stehen.
»Was ist denn?«, rief Ines. »Komm hierher, los komm, Dertutnix!«
»Wie heißt der Köter?«, brüllte der Mann.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Ines, »der tut nie jemand was, der ist ganz freundlich.«
»Scheißköter!« Der bleiche Mann schnaubte, seine Lider flatterten. Schon bevor der Hund auf ihn losgegangen war, hatte er sich beschissen gefühlt. Am liebsten hätte er mit seiner Säge den halb nackten Frauen, die hier überall aufreizend herumspazierten, Schamgefühl beigebracht. Außerdem verabscheute er Rossi, weil der sich jetzt um Natalia kümmerte und ihn einfach weggeschickt hatte, dieser wichtigtuerische Verkäufer.
»Scheißköter!« Er spuckte aus. Der Hund bellte immer noch, aber Ines hielt ihn jetzt fest an der Leine.
»So was hat er noch nie gemacht«, sagte sie, »Entschuldigung!«
Knurrend sprang der Hund vor ihr auf und ab und sie hatte Mühe, ihn festzuhalten.
Harald Kock steckte die Säge in die Tasche und ging davon. Sein blasses Gesicht war gelb vor Ekel.
»Hast du den Mann gekannt?«, fragte Ines ihren Hund. Als ihr der Rauch eines frisch entzündeten Grillfeuers in die Nase stieg, musste sie an Natalia denken, was sie seit fünf Minuten nicht getan hatte. Sie blieb stehen und hoffte, sie würden in diesem Sommer wieder gemeinsam am Flaucher picknicken und fette Würste essen und Desperados-Bier trinken bis zum Umfallen.
19 17. August, 16.53 Uhr
N achdem Karl Funkel die Namen zu den Telefonnummern Katharina Wagners geklärt und die Kollegen zu den entsprechenden Wohnungen geschickt hatte, fuhr er nach seinem Anruf in die Lindwurmstraße, wo er auf Florian Nolte traf, der an Rossis Wohnung geklingelt hatte. Seine Bewacher waren inzwischen ins Dezernat zurückgekehrt.
»Woher kennen Sie diesen Mann?«, fragte Funkel. Nolte schwieg.
»Sie haben interne Informationen an ihn weitergeleitet. Mike Sadlow ist untergetaucht und das Ehepaar Scholze wurde ermordet.«
Nolte reagierte nicht.
»Reden Sie mit mir, Florian!«, sagte der Kriminaloberrat. »Ich will etwas verstehen.«
»Das Mädchen muss weg, dann ist wieder Ruhe im Land«, sagte Nolte und sah aus dem Auto. In Rossis Wohnung waren jetzt die Fenster geöffnet, Polizisten durchsuchten die Zimmer.
»Bitte?«
»Das Mädchen muss weg, dann ist wieder Ruhe im Land.«
Funkel wurde nach draußen gerufen. Am Telefon des Einsatzwagens erfuhr er, dass die Kollegen Braga und Gerke in Guben Hinweise auf einen möglichen Aufenthaltsort Sadlows entdeckt und daraufhin von den polnischen Kollegen eine Rasterfahndung erbeten hatten. Mike Sadlow war in einem kleinen Hotel in der Nähe von Posen gesehen worden. Polizisten hatten das Haus umstellt und eine Spezialeinheit hatte vor wenigen Minuten das Hotel gestürmt und einen bewaffneten
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