German Angst
der zieht auch oft mit ihr rum.«
Yilmaz vertiefte sich in sein Spiel und schien die drei Männer schlagartig vergessen zu haben.
»Das war Nummer sechzehn«, sagte Niklas Ronfeld auf der Straße.
Es war ein regnerischer Nachmittag und die Stimmung im Glockenbachviertel mit den hohen Häusern aus der Jahrhundertwende und den Szenekneipen und kleinen Läden war anders als sonst, weniger idyllisch, weniger lebendig. Jedenfalls hatte Sebastian Fischer diesen Eindruck, als er sich von Ronfeld und Funkel verabschiedete und einen kurzen Spaziergang zum Westermühlbach unternahm, vorbei an einem Spielplatz, auf dem kein Kind spielte, an Fenstern, die geschlossen waren, an einem leeren Café. Lautlos floss der Bach in Richtung Kapuzinerstraße und verschwand dann im Untergrund. Alle anderen Bäche dieses Viertels waren seit langem zugeschüttet. Daran musste Fischer denken, während er ins Wasser blickte und plötzlich feststellte, wie leer er sich fühlte, wie ausgehöhlt und gleichzeitig schwer und bewegungslos. Als wären seine Adern aus Beton, in denen sein Blut wie ein zähes Rinnsal floss, kraftlos und dunkel.
In seinem Büro schaltete Dr. Sebastian Fischer die Schreibtischlampe ein, obwohl es draußen hell war, setzte sich in den Ledersessel und schloss die Augen. Acht zu drei hatte er heute beim Tischtennis gegen Ronfeld verloren und in einigen Spielen war er einstellig untergegangen. Doch was er vor allem an diesem Nachmittag im Keller des Schelling-Salons verloren hatte, waren Vertrauen und Zuversicht. Und vielleicht einen Freund.
Dann fiel sein Blick auf die Akte mit der Aussage von Ute Ross, der Wirtin, und sofort schlug seine Lethargie in Wut um, die durch seinen ganzen Körper zu pulsieren schien.
Sie betrieb das Café Olé in der Sonnenstraße, die Kneipe im ersten Stock war ein Treffpunkt für Jugendliche aus allen Stadtteilen. Die Sonnenstraße lag im Zentrum zwischen Stachus und Sendlinger-Tor-Platz, für jeden erreichbar mit Tram, U- oder S-Bahn. Auch Lucy hatte hier eine Art Stammtisch, an dem sie ihre Gefolgschaft versammelte oder allein in Büchern las, was niemand wissen durfte.
»Ich hab den Eindruck, sie hat sich geschämt«, sagte Ute Ross zu Ronfeld, Fischer und Sonja Feyerabend. An diesem Vormittag, bei der siebzehnten Zeugenbefragung, war Kriminaloberrat Funkel verhindert und er hatte Sonja Feyerabend gebeten, für ihn einzuspringen. Da die Vermisstenstelle im Fall der verschwundenen Hoteliersfrau Katharina Wagner nicht weiterkam, hatte Sonja nichts dagegen. Außerdem kannte sie das Lokal. Schon öfter hatten sie dort vermisst gemeldete Jugendliche aufgegriffen und meist war es die Wirtin gewesen, die die Polizei alarmiert hatte.
»Wenn sie ohne die anderen kam, hat sie gelesen.« Ute Ross war Anfang fünfzig, sehr schlank, hellblond und stark geschminkt. Sie trug enge Leggings und einen weit ausgeschnittenen Pullover. Anscheinend kannte sie jeden ihrer jungen Gäste persönlich und wusste über deren Innenleben genau Bescheid.
»Vor vier Monaten«, sagte Ronfeld und blätterte in einem Schnellhefter voller engbeschriebener Seiten, »haben Sie die Polizei geholt, weil Lucy Arano eine Schlägerei angefangen hatte.«
»Wissen Sie, Herr…«
»Ronfeld.«
»Herr Ronfeld, ich bin froh, wenn ich die Polizei nicht im Haus hab, das ist ja verständlich, das regt die Gäste auf und mich auch. Aber ich muss aufpassen, dass mir manche Jugendliche nicht die Stimmung kaputtmachen. Ich meine, sie kommen gern hierher, und ich spendier ihnen auch schon mal was, wenns ihnen dreckig geht. Neulich saß hier, genau hier, wo wir jetzt sitzen, Rudi, der ist vierzehn, sehr nett, sehr ruhig und freundlich immer, dessen Oma ist plötzlich gestorben, der war total fertig, er hat geraucht wie ein Schlot und einen Kaffee nach dem andern getrunken, ich hab mich natürlich zu ihm gesetzt und ihn getröstet. Oder Susi, die ist so richtig in sich gekehrt, ich glaub, sie kommt mit ihrem Stiefvater nicht zurecht, sie redet nicht gern drüber, aber ich kenn sie, ich weiß, was in ihr los ist, sie…«
»Weshalb haben Sie die Polizei geholt, Frau Ross?«, fragte Ronfeld.
»Wegen Lucy. Wegen ihr. Sie ist unberechenbar, auf einmal fängt sie an, um sich zu schlagen, und sie haut ja nicht einfach so zu, sie tritt wie ein Pferd die Leute um, das müssten Sie mal sehen, oder sie schlägt ihnen auf die Nase, so schnell können Sie gar nicht schauen. Wie oft hab ich zu ihr gesagt: ›Reiß dich zusammen, Kleine, sag mir, was
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