Germania: Roman (German Edition)
befreit, und das Sternbild der Kassiopeia strahlte heller als je zuvor. Den Planeten war es egal, ob auf dem Sonnentrabanten namens Erde Krieg herrschte oder nicht. Sie zogen weiterhin unbeirrbar ihre Bahn, ließen sich durch nichts von ihrem Lauf abhalten.
Aus der Tiefe des Alls starrte der Teufelsstern mit kaltem Blick auf die drei Menschen, die sich um vier Uhr in der Früh auf dem Reichssportfeld trafen. Auf dem Gelände, das vor einem Jahrzehnt für die Olympischen Spiele entworfen worden war, wirkten die Männer klein und unbedeutend. Neben dem langgestreckten Bauwerk, das zur Kartenkontrolle diente, schloss einer von ihnen das Eisentor auf und ließ die anderen beiden eintreten. Achtlos gingen sie am gigantischen Rund des Olympiastadions vorbei und näherten sich dem Maifeld. Dazu hatten sie ein Tor zu durchschreiten, das lediglich aus zwei schmalen Säulen bestand, die sich in den Nachthimmel reckten und irgendwo über ihren Köpfen in der Schwärze verloren.
»Warum musste Hoffmann nur am Südeingang halten?«, murrte Oppenheimer, denn sie hatten noch einen knappen Kilometer zu laufen.
»Nachts haben Besucher nur dort Zugang«, sagte Vogler.
»Ich dachte, das Westtor sei sowieso aufgebrochen. Eine Besichtigung des kompletten Geländes interessiert mich nicht.«
Oppenheimer konnte es nicht fassen. Selbst die Leute von der SS waren im Grunde ihres Herzens Bürokraten. Sein Fluchen wurde durch den Schal gedämpft, den Lisa ihm aufgedrängt hatte. Oppenheimer hatte nicht verhindern können, dass auch sie geweckt wurde, als der Unglücksbote Hoffmann erschienen war. Egal, was sie nun anstellten, Traudel Herrmann würden sie damit nicht mehr helfen können.
Obwohl es noch recht früh war, dämmerte es bereits. Oppenheimer erinnerte sich daran, dass in zwei Tagen die Sonnenwende war. Die Nationalsozialisten hatten zur Feier dieses Datums im Olympiastadion stets große Feste veranstaltet, bei denen Tausende lodernder Fackeln ein gigantisches Hakenkreuz formten. Doch das Vergnügen an solchen Veranstaltungen war der Bevölkerung in den Kriegsjahren gründlich vergangen. Oppenheimer hatte nicht gehört, dass es diese Woche wieder ein derartiges Fest geben würde, denn riesige flammende Hakenkreuze in der Nacht vertrugen sich wohl kaum mit dem allgemeinen Verdunklungsbefehl. Auch für andere Anlässe wurde das Reichssportgelände gern von der Partei genutzt. Mehrere Jahre vor Kriegsbeginn, während der Rest der Welt noch darauf hoffte, dass der erste große Krieg alle weiteren Kriege beendet habe, wurden in Deutschland bereits die Vorbereitungen für den nächsten getroffen. Hitler und seine Helfershelfer gingen nicht mal sonderlich subtil vor, um die Menschen darauf einzustimmen. So fanden im Olympiastadion alljährlich die Reichswettkämpfe der SA statt. Zu diesem Anlass hatte man völlig neue Sportarten ersonnen, wie zum Beispiel den Granatenweitwurf oder den beim Publikum in der Vorkriegszeit noch sehr beliebten Staffellauf mit Gasmasken. Schon bald sollte sich zeigen, dass der von der Partei propagierte, gesunde Volkskörper durchaus kein Selbstzweck war. Gelobt war, was hart machte – im Olympiastadion und an der Front.
Oppenheimer hatte genügend Zeit, um über diese Dinge nachzudenken, während er zusammen mit Vogler hinter dem Nachtwächter herlief. Das Feld, über das sie geführt wurden, schien kein Ende nehmen zu wollen. Sie hielten auf den Glockenturm zu, der über dem sogenannten Westwall emporragte. Grimmig dachte Oppenheimer daran, dass der Mörder immer wieder Phallussymbole fand, vor denen er seine Opfer ablegen konnte. Das Bauwerk vor ihnen war trotz seines Namens weniger ein Wall als eine langgestreckte Zuschauertribüne mit unzähligen Sitzreihen, einer jener typischen Steinklötze, die von den Baumeistern der Partei überall in der Stadt errichtet worden waren und die allesamt keine vernünftige Funktion besaßen, wenn nicht gerade ein Aufmarsch oder eine andere pompöse Feier stattfand.
Endlich hatten sie die unteren Stufen am Rand der Tribüne erreicht. Sie erklommen eine Balustrade und mussten dann noch das Halbrund entlanglaufen, ehe sie zur Ehrentribüne kamen, die direkt unter dem Glockenturm thronte. Oppenheimer erspähte einen Absatz, auf dem ein steinerner Stumpf errichtet war. Diese Aussichtsplattform war der Stand des Führers, auf dem Hitler, für jeden sichtbar, die Aufmärsche abnehmen konnte.
»Halt! Wer da?«, rief jemand. Oppenheimer wurde vom Schein einer Taschenlampe
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