Germania: Roman (German Edition)
schnelle Lösung hatte sich nicht ergeben. Da die Arbeit am nächsten Tag weitergehen würde, musste er mit seinen Kräften haushalten. Er wusste, dass sein Körper den entgangenen Schlaf zurückfordern würde. Schließlich war er kein junger Spund mehr.
Als er niedergeschlagen in die Küche kam, erwartete ihn bereits Lisa mit sorgenvollem Blick.
Oppenheimer ließ sich auf den erstbesten Stuhl sinken. »Die Untersuchung. Ich war beschäftigt. Hat Hoffmann dir Bescheid gesagt?«
»Er hat nur gemeint, dass du später kommst, sonst nichts. Was ist geschehen? Ist es jetzt vorbei?«
»Nein. Noch lange nicht. Die nächsten Tage werden sicher schwierig.« Erschöpft lehnte er sich zurück. Dann stellte er das neue Paar Schuhe auf den Tisch. »Hier, die sind von Hilde. Ich muss wohl noch Papier reinlegen, damit sie passen.«
Müde blickte er Lisa an, als sie sich mit zwei Tassen Ersatzkaffee neben ihn setzte. Nachdem sie einige Sekunden in ihren Muckefuck gestarrt hatte, sagte sie: »Ich hatte mir schon gedacht, dass es mit der Untersuchung noch nicht vorbei ist. Hilde hat so etwas angedeutet.«
Plötzlich hellwach, horchte Oppenheimer auf. »Du hast mit Hilde gesprochen?«
»Nicht nur gesprochen. Vor ein paar Stunden war sie hier.«
»Hier bei uns?«
»Du hättest den alten Schlesinger sehen sollen. Der kriegte sich vor Neugierde nicht mehr ein. Hilde hat ihm schließlich weisgemacht, sie sei meine Schwester aus Leipzig. Sie hatte eine wichtige Nachricht.«
»Was war es?«
»Sie sagte, dass Pünktchen und Anton deine Bedingungen akzeptieren.« Dann senkte sie die Stimme. »Sie wollen mit dir sprechen. Morgen Abend sollst du gegen zehn Uhr in Richtung Hansabrücke gehen. Sie werden dich auf dem Weg kontaktieren. Hilde meinte, die beiden würden uns aus Deutschland rausbringen. Ist das wahr, Richard? Gibt es eine Möglichkeit, das Land zu verlassen?«
Er beugte sich zu Lisa vor. »Es ist möglich. Die Abwehr steckt dahinter, doch es ist ein wenig heikel.«
Oppenheimer und Lisa hatten in den letzten Jahren häufig darüber gesprochen, aus Deutschland wegzugehen. Seine Schwester war mit ihrem Ehemann nach Paraguay geflohen. Ihren Briefen nach zu urteilen, konnten sie sich gut über Wasser halten, da er Ingenieur war und nach einigen Anlaufschwierigkeiten eine Stellung ergattert hatte. Allerdings bezweifelte Oppenheimer, dass es in Lateinamerika einen großen Bedarf an Berliner Mordkommissaren gab. Und als Oppenheimer schließlich schweren Herzens den Entschluss gefasst hatte, Deutschland den Rücken zu kehren, war es zu spät gewesen. Zwar hatten sie es geschafft, ein britisches Visum zu erhalten, doch als kurz darauf Hitler in Polen einmarschierte, wurde die Grenze dichtgemacht. Später hatte es noch eine Option gegeben, über Shanghai in die Vereinigten Staaten einzureisen, aber die Bedingung, dass ihnen jemand aus den USA vierhundert Dollar und die Reisekosten vorstrecken sollte, konnte Oppenheimer nicht erfüllen. Jetzt gab es völlig unverhofft eine weitere Option. Allerdings wusste er nicht, was Lisa davon hielt. Also fragte er sie: »Was meinst du? Würdest du weggehen wollen?«
»Ich würde alles tun, damit wir dieses Scheißland verlassen können«, sagte Lisa mit ungewohnter Heftigkeit. »Ich möchte keine Deutsche mehr sein. Bei all dem Wahnsinn. Ich hasse die Leute hier.«
Oppenheimer musste schmunzeln. »Jetzt klingst du fast wie Hilde. Der springende Punkt ist, dass ich Pünktchen und Anton über die Untersuchungsergebnisse informieren soll. Doch die Mordfälle sind als geheim deklariert worden.«
»Tu es einfach. Sonst kommst du nicht mehr raus. Dieser Vogler behandelt dich zwar mit Respekt, doch sie benutzen dich trotzdem. Du möchtest vielleicht gern daran glauben, aber diese Herrenmenschen werden dich niemals als ebenbürtig akzeptieren. Du bist keiner von ihnen und wirst es niemals sein.« Dann blickte sie ihm direkt in die Augen. »Fühle dich in Gegenwart von SS-Leuten nicht zu sicher, Richard. Vergiss nicht, wer du bist und woher du kommst. Ich weiß, was du denkst. Es ist kein Verrat, wenn du den Leuten von der Abwehr die Untersuchungsergebnisse mitteilst. Es ist nicht die Zeit für Loyalität. Wir sollten das Angebot annehmen und fliehen.«
21
Montag, 19. Juni 1944 – Mittwoch, 21. Juni 1944
Ü ber ihnen spannte sich die Unendlichkeit. Vor einigen Jahren waren die Sterne wieder nach Berlin zurückgekehrt. Die Verdunklungsverordnung hatte das Universum vom Lichtschein der Stadt
Weitere Kostenlose Bücher