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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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geblendet. Dann ertönte das Knallen schwerer Stiefelhacken, und Oppenheimer konnte erkennen, wie der Schatten hinter der Taschenlampe vor Vogler salutierte.
    »Weitermachen«, befahl Vogler, und der SS-Mann verschwand wieder, um den Fundort zu bewachen. Vogler richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe nach unten. Vor ihnen lagen die sterblichen Überreste von Traudel Herrmann.
    Der Mörder hatte die Leiche wieder wie üblich arrangiert. Ihr Rumpf war dem Stand des Führers zugewandt, die Beine waren gespreizt, der Schoß war eine einzige Wunde, und ihre Arme waren abgetrennt. Oppenheimer zweifelte nicht daran, dass sie Stahlnägel in den Gehörgängen der Frau finden würden.
    Doch diesmal war wieder etwas anders. Mit gerunzelter Stirn blickte Oppenheimer auf den Kopf der Ermordeten. Der Täter hatte sich die Mühe gemacht, Traudel Herrmanns Haare abzurasieren. Mit einer Klemmnadel war ein Schild an ihrer Kleidung befestigt, auf dem in großen Buchstaben das Wort Judenhure stand.
    »Hm, das würde zumindest den kahlen Kopf erklären«, sagte Oppenheimer nach einigem Nachdenken. Er hatte davon gehört, dass Frauen auf der Straße vor aller Augen kahl geschoren wurden, weil sie den Fehler gemacht hatten, sich mit einem Mann einzulassen, der gemäß der Nazi-Definition nicht deutschblütig war und schlimmstenfalls zur Klasse der sogenannten Untermenschen gehörte. Laut dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre musste eine Partnerwahl, die in den Augen der Nationalsozialisten falsch war, geahndet werden. Oppenheimer fragte sich, ob die Zurschaustellung der kahlgeschorenen Frauen zur Abschreckung oder zur Unterhaltung des Publikums dienen sollte.
    »Warum bezeichnet er sie als Judenhure? Gibt es da ein Geheimnis? Ich nehme doch an, dass Gruppenleiter Herrmann zumindest einen Ariernachweis besitzt. Ich schlage vor, dass Sie das überprüfen lassen. Vielleicht bringt es uns weiter.«
    Vogler antwortete nicht, sondern starrte mit Grabesmiene auf den Leichnam.
    Oppenheimer setzte sich und blickte über das Aufmarschgelände. Noch lag es im Dunkeln, doch irgendwo hinter den fernen Häusern war bereits die Sonne aufgegangen. Langsam schlich sich das Blau in den Himmel, so dass der Andromeda-Nebel, den man vor wenigen Stunden noch mit bloßem Auge neben dem Pegasusquadrat hatte erspähen können, bereits nicht mehr zu erkennen war. Deutlich zu sehen waren hingegen noch Capella im Nordosten und die hauchdünne Sichel des Mondes. Selbst der Erdtrabant schien sich der Architektur des Reichssportfeldes unterzuordnen. Er stand genau über dem Marathontor, eine breite Schneise, die das Rund des Olympiastadions durchschnitt. Oppenheimer überlegte angestrengt.
    »Eigentlich ist es nicht das Revier unseres Mörders.«
    »Wenn Ihre Vermutung stimmt, dann hat er ein großes Risiko auf sich genommen«, sagte Vogler. »Er musste die Leiche quer durch die Stadt transportieren, was jemandem hätte auffallen können. Außerdem gibt es hier gleich um die Ecke mehrere Dienststellen der Wehrmacht.«
    »Er wird unvorsichtig. Das ist typisch für Wiederholungstäter. Er wurde bislang nicht geschnappt und fühlt sich sicher. Zudem fühlt er sich von den offiziellen Repräsentanten der Partei nicht verstanden, also legt er die Leiche genau vor dem Stand des Führers ab. Man könnte das als einen persönlichen Appell an Hitler deuten.«
    »Ja, das wäre eine Erklärung«, gab Vogler zu. »In seinem Wahn glaubt er, dass ihm der Führer zustimmen würde.«
    »Nur hat dieser Fundort nichts mit dem Ersten Weltkrieg zu tun. Es ist ein Rätsel. Bei allen anderen gab es eine Art Denkmal für die Gefallenen.«
    »Aber dit is hier doch«, ertönte es plötzlich aus dem Zwielicht. Es war das erste Mal, dass der Nachtwächter gesprochen hatte. »Die Langemarckhalle. Gleich hier drunter.«
    »Stimmt«, sagte Vogler, »dieser Ort passt perfekt zu den anderen Verbrechen.«
    Oppenheimer blickte die beiden Männer fragend an. »Von welcher Halle sprechen Sie?«
    »Kommen Se mit«, sagte der Nachtwächter und klimperte mit seinen Schlüsseln.

    Im Schein der Taschenlampe erkannte Oppenheimer das Relief klobiger Buchstaben. In der Schwärze wirkte der Raum wie ein Pharaonengrab, das jahrtausendelang unter dicken Steinquadern verborgen war und darauf gewartet hatte, dass Forscher es fanden. Oppenheimer fühlte sich wie ein Entdecker vom Schlage eines Howard Carter und hätte sich kaum gewundert, wenn sie in einer Ecke auf eine Mumie gestoßen

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