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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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wären.
    Es war in Flandern geschehen, am 10. November 1914. In Langemarck waren kriegsfreiwillige Gymnasiasten und Studenten, das Deutschlandlied auf den Lippen, gegen den Feind angerannt und wurden elend zusammengeschossen. Oppenheimer hatte nicht gewusst, dass seinen damaligen Kameraden unter Feindesbeschuss besonders musikalisch zumute war, doch zumindest erzählte dies der Nachtwächter, mit glänzenden Augen und einem verklärten Lächeln. Seinen Angaben zufolge waren dabei zweitausend deutsche Soldaten gefallen.
    In Oppenheimers Augen war das Gefecht nicht mehr als eine jener strategisch fragwürdigen Schlachten gewesen, die Anno Scheiße ausgefochten worden waren.
    »Ich muss an die frische Luft«, sagte Oppenheimer und verließ die Halle. »Ich nehme an, dass Sie die Leiche gefunden haben?«, fragte er den Nachtwächter.
    »Ick hab jesehen, wie’n Lieferwagen am Westeingang abjestellt war«, antwortete er. »Ick war grad beim aufjebrochenen Tor, da startet der Motor und weg isser.«
    Oppenheimer blieb stehen und packte den Nachtwächter am Arm. Er musste den Täter überrascht haben. »Können Sie mir zeigen, wo das genau war?«

    Sie traten ins Freie. Das Maifeld war von hier aus hinter der aufragenden Tribüne nicht mehr zu sehen. Der Nachtwächter zeigte auf einen freien Platz. »Wenn Se mal dort gucken, dit sind die Parkplätze, gleich beim Eingang zu der Freilichtbühne. Doch der Lieferwagen stand direkt hier umme Ecke.«
    »Können Sie mir die genaue Stelle zeigen, wo das Fahrzeug stand?«
    Der Nachtwächter setzte sich in Bewegung. Oppenheimer spürte, wie vor Aufregung das Blut in seinem Kopf pochte. Er wollte unverzüglich zu der Stelle, an der dieser Wagen gestanden hatte, doch der Nachtwächter schlurfte irritierend langsam die Treppe hinunter. Oppenheimer entschloss sich, diese Zeit nicht unnütz verstreichen zu lassen, und fragte weiter:
    »Wenn es ein Lieferwagen war, haben Sie dann eine Aufschrift erkennen können, oder erinnern Sie sich an das Nummernschild?«
    »Ick hab nur eenen jroßen Schatten jesehen. Nix weiter. Ick weeß nich, ob da auf der Plane wat stand.«
    Oppenheimer wurde hellhörig. »Was für eine Plane?«
    »Also, ick konnte noch sehen, wie der Laster wegjefahrn is. Er is durch’n Schlachloch, und da vibrierte dit janze Jerät.«
    »Sie meinen, die Plane war über die Ladefläche gespannt?«
    »Ja, so hoch, dit man hinter jrad so stehen kann.«
    Der Nachtwächter ging zum Vorbau des Walls, ein etwa zwei Meter hohes Steinpodest. Ein dort abgestelltes Fahrzeug konnte bei Tag nur von den oberen Rängen des Westwalls aus gesehen werden. In der Nacht jedoch wäre es an dieser Stelle so gut wie unsichtbar.
    Als sie sich näherten, sah Oppenheimer etwas auf dem Boden glitzern. Instinktiv zuckte er zusammen. »Stopp!«, rief er und hielt seine Begleiter zurück. Aufgeregt riss er Vogler die Taschenlampe aus der Hand und begutachtete den Boden.
    Vor ihnen war eine Pfütze. Die letzten Tage über hatte es heftig geregnet, und der Boden war immer noch aufgeweicht. Der gestrige Sonnentag hatte nicht ausgereicht, um hier im Schatten des Steinpodestes die Erde wieder vollständig zu trocknen. Oppenheimer kniete nieder und untersuchte den Boden. Er konnte klar und deutlich ein Muster erkennen. Der Lastwagen war durch die Pfütze gefahren und hatte dabei das Reifenprofil in der feuchten Erde hinterlassen.
    »Ich brauche sofort jemanden von der Spurensicherung«, befahl Oppenheimer. »Von den Reifenspuren müssen wir umgehend einen Gipsabdruck machen.«
    »Alles klar«, sagte Vogler und wandte sich zum Gehen. Als er bemerkte, dass sich Oppenheimer nicht vom Fleck rührte, blieb er stehen. »Sie kommen nicht mit?«
    Unwirsch schnaubte Oppenheimer. »Teufel noch mal, hier kriegen mich keine zehn Pferde weg, ehe die Spuren nicht gesichert wurden. Ich werde nicht das Risiko eingehen, dass irgend so ein besoffener Trottel darüberlatscht. Holen Sie jemanden. So schnell wie möglich.«
    Vogler und der Nachtwächter verschwanden. Der Lichtkegel der Taschenlampe wurde kleiner und verlor sich im Schatten des Westwalls. Oppenheimer strengte seine Augen an und suchte am Boden nach weiteren Hinweisen. Schließlich fand er wenige Zentimeter entfernt einen Fußabdruck.
    Zum ersten Mal während dieser Untersuchung begann Oppenheimer, ein wenig Hoffnung zu schöpfen.

    »Psst«, ertönte es von rechts, dann heiser flüsternd: »Oppenheimer, kommen Sie rüber.«
    Es war jetzt knapp zehn Uhr abends.

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