Germania: Roman (German Edition)
Oppenheimers freien Tag zur Sommerfrische in die Berliner Vororte oder ins Havelland gefahren. Damals war alles so einfach gewesen, als er seine Stelle im Morddezernat hatte und Lisa noch nicht arbeiten musste, damit sie über die Runden kamen. Obwohl es nur wenige Jahre her war, schien es ihm wie die Erinnerung an ein vergangenes Jahrhundert.
In Marienfelde gab es nicht gerade viel zu entdecken, doch zumindest konnte Oppenheimer wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Der Fundort am Kirchteich war alles andere als ideal, wenn man unauffällig eine Leiche loswerden wollte. Von den umliegenden Häusern aus war diese Stelle problemlos einsehbar. Der Mörder musste ungeschützt im Freien agieren. Doch weil Christina Gerdeler das erste Opfer war, das man aufgefunden hatte, schien alles darauf hinzudeuten, dass dies ein typischer Anfängerfehler war. Ob jemand den Mörder in dieser Nacht gestört hatte, ließ sich leider nicht nachweisen, da es die Polizei anscheinend unterlassen hatte, die Nachbarn zu befragen. Jedenfalls plante der Täter daraufhin seine weiteren Taten genauer und achtete darauf, dass er nicht mehr gesehen werden konnte, wenn er die toten Frauen vor die Denkmäler legte. Er lernte und gewann mit jedem weiteren Mord an Sicherheit hinzu. Vielleicht würde er mit der Zeit zu viel Selbstvertrauen entwickeln, so dass er Fehler machte. Doch Oppenheimer konnte sich über diese neugewonnene Erkenntnis kaum freuen, weil dies zugleich bedeutete, dass weitere Frauen sterben müssten.
Unmittelbar nach den Feiertagen tauchte auch Vogler wieder in der Kameradschaftssiedlung auf. Er hatte Glück gehabt, weder seine Fußknochen noch die Schienbeine waren gebrochen. Er kam Oppenheimer, humpelnd und auf einen Stock gestützt, entgegen, da die Schwellungen nicht so schnell abklingen wollten. Er hatte Gruppenführer Reithermann problemlos ausfindig gemacht. Seit dieser ausgebombt worden war, residierte er in einem Zimmer im Adlon. Am Nachmittag sollten sie ihn dort treffen.
»Offenbar schert sich Reithermann nicht großartig um Kinkerlitzchen«, fügte Vogler grimmig hinzu. »Er hat sich nicht die Mühe gemacht, seine neue Adresse anzugeben, weil er davon ausgeht, dass sowieso jeder weiß, dass er ausgebombt wurde. Natürlich, es ist allgemein bekannt, nur mir hat es keiner gesagt.«
Oppenheimer konnte nur mühsam ein Schmunzeln unterdrücken. Insgeheim hatte er sich schon länger gefragt, ob der Überwachungsstaat der Nazis wirklich so perfekt funktionierte, wie jeder glaubte.
Auch Vogler schien ähnliche Gedanken zu verfolgen und schüttelte den Kopf. »Nun ja. Hier, das ist für Sie. Ich denke, das reicht für eine Weile.« Mit diesem Kommentar drückte er Oppenheimer eine Wehrmacht-Großpackung mit Tabletten in die Hand. Dieser blickte auf die Beschriftung, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht getäuscht hatte. Es war Pervitin. Oppenheimers Augen weiteten sich gierig.
»Wenn Sie wieder welche brauchen, dann wenden Sie sich einfach an mich«, sagte Vogler und verschwand im Keller.
Sobald sich Oppenheimer unbeobachtet fühlte, schluckte er gleich drei Tabletten. Endlich. Es war höchste Zeit gewesen.
Nachdem die Wirkung eingesetzt hatte, überlegte er, wo er diese unermessliche Kostbarkeit verstecken sollte. Die Tabletten im Judenhaus zu deponieren war zu gefährlich. Die einzige Möglichkeit war, sie hier im Haus zu verstauen.
Nachdem er seinen Tablettenvorrat in der Küche versteckt hatte, machte sich Oppenheimer an die Arbeit. Er wollte das Schaubild an der Wand des Wohnzimmers überarbeiten, denn er glaubte, das Zettelchaos an der Tapete mit seinen neuen Erkenntnissen über den Mörder ein bisschen übersichtlicher gestalten zu können. Er sortierte alle Personen aus, die unter vierzig Jahren waren, und heftete die entsprechenden Papierschnipsel weiter entfernt an der Wand ab. Dann tat er dasselbe mit den weiblichen Verdächtigen. Schließlich umgaben nur noch an die zwanzig Zettel die Namen der Toten. Die restlichen Papierschnipsel scharten sich um das gerahmte Hitlerbild, das in der Nähe hing. Fast schien es so, als würde sich bei dieser Untersuchung auch der Reichskanzler unter den Mordverdächtigen befinden. Als Vogler den Raum betrat, quittierte er dies mit einem missbilligendem Blick, enthielt sich jedoch eines Kommentars.
Die gewölbte Decke, unter der Oppenheimer stand, war reich mit Stuck verziert. In ihrer Mitte befand sich ein aufwendiges Fresko in einem Rahmen aus Gips. Es gab noch viele
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