Germania: Roman (German Edition)
überrascht gewesen, dass er sich gar nicht gefragt hatte, in welcher Beziehung das Mädchen zu Hilde stand.
»Du dumme kleine Gans«, wisperte Hilde und streichelte zärtlich über die Stirn der Schlafenden. »Lässt dir erst ein Kind andrehen und dann das.«
»Ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig«, sagte Oppenheimer.
»Hm, sieht so aus. Sie heißt Thea. Hat mich vor ein paar Tagen besucht. Sie wollte ihr Kind abtreiben lassen. Anscheinend ist sie zu einem dieser Quacksalber gegangen, anstatt sich von mir versorgen zu lassen. Ich verstehe nicht, warum. Jetzt hat sie von dem Eingriff innere Verletzungen davongetragen. Ich hatte sie davor gewarnt. Bei mir wäre so was nicht geschehen.« Sie wandte sich wieder der jungen Frau zu. »Warum hast du nur nicht auf mich gehört?«
In Oppenheimer keimte ein ungeheuerlicher Verdacht. »Du bist eine – eine …«
»Abtreiberin, Engelmacherin … du kannst es nennen, wie du willst. Ich bin nicht stolz drauf, aber irgendjemand muss diesen armen Frauen helfen. Du siehst ja, was passiert, wenn sie zu einem dieser Metzger gehen, die mit Kleiderhaken und Ähnlichem herumhantieren. Allein dieser Gedanke!« Hilde war vor Zorn laut geworden. Als das Mädchen leise stöhnte, senkte sie wieder ihre Stimme. »Sie wird es überstehen. Zum Glück hatte sie so viel Verstand, zu mir zu kommen. Sie wäre fast verblutet, im Krankenhaus hätten sie sicher Fragen gestellt. Ich dürfte so ziemlich die einzige Person sein, die sie medizinisch versorgen kann und sie nicht verpfeifen wird.«
Hildes Geständnis war für Oppenheimer wie ein Schlag in die Magengrube. Plötzlich erschien alles in einem anderen Licht. Er konnte nicht leugnen, dass Hilde intelligent, großzügig und warmherzig war. Doch genauso wenig konnte er leugnen, dass sie manchmal selbst für ihn schwer zu durchschauen war. Gelegentlich urteilte sie allzu vorschnell über den Charakter von Menschen, sie gab sich häufig zynisch, und jetzt stellte sich heraus, dass sie jemand war, der menschliches Leben tötete, aus welchen Gründen auch immer. Oppenheimer erschauderte.
»Weißt du eigentlich, was du da tust?«, fragte er. »Wenn das herauskommt, werden sie dich hängen.«
Hilde stieß ein langgezogenes Seufzen aus. »Ich weiß, dass es gefährlich ist. Doch ich muss es tun. Oder soll ich jemanden wie Thea etwa zu diesen Verrückten vom Lebensborn schicken? Das könnte ich nicht verantworten. Ja, sie würden ihr helfen, das Kind zu bekommen, und was dann? Dann werden sie es zu einem strammen Nationalsozialisten erziehen. Und hast du dich schon mal gefragt, was passiert, wenn das Kind von ihnen als lebensunwert eingestuft wird? Fräulein Friedrichsen hat das hauseigene Meldeamt geführt. Wie viele fingierte Todesurkunden wird sie da ausgestellt haben?«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Verstehst du nicht? Diese Nazi-Bonzen wollen Frauen zu reinen Gebärmaschinen umfunktionieren. Unser Uterus kann doch nicht Hitler höchstpersönlich gehören! Ich kämpfe gegen diesen Bastard mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen.«
Oppenheimer schüttelte den Kopf. »So kann ich die Sache nicht sehen.«
»Na ja, vielleicht sollte ich das auch nicht erwarten. Schließlich bist du ein Mann.«
»Daran liegt es nicht. Ich bin nebenbei auch Kommissar. Ich habe diesen Beruf ergriffen, weil ich verhindern möchte, dass Menschen einander töten.«
»Hm, verstehe. Und du glaubst jetzt, dass wir beide uns in gegnerischen Lagern befinden?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Vor einer Stunde noch warst du die Hilde, die ich kenne, und jetzt – jetzt muss ich mich ernsthaft fragen, ob ich dich nicht falsch eingeschätzt habe.«
Hilde rieb müde ihre Augen. »Ich denke, da werden wir heute zu keiner Lösung mehr kommen.«
»Ja, vielleicht sollte ich darüber schlafen«, sagte Oppenheimer missmutig zum Abschied.
Wie geplant fuhr Oppenheimer mit Lisa am Pfingstmontag nach Marienfelde, um den Fundort des ersten Opfers, Christina Gerdeler, zu besichtigen. Als Lisa bei der Abfahrt aus Moabit in das SS-Auto einsteigen wollte, das Vogler ihm überlassen hatte, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Vor der Türöffnung stehend, inspizierte sie ungläubig das Innere und ließ ihre Hände über die Sitzflächen gleiten. »Du meine Güte«, entfuhr es ihr, »das hier ist echtes Leder.«
Oppenheimer musste lächeln. »Leider bin ich meistens nicht so komfortabel unterwegs.«
Früher waren sie gelegentlich an
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