Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
daß sie endlich diese Stadt betreten sollten. Die Kasse war erschöpft, die Gesellschaft schien nicht nachgeben zu wollen, jeder Tag mußte die Lage erschweren, aber sie bewahrten ihre Hoffnung und zeigten eine lächelnde Mißachtung der Tatsachen. Dieser Glaube ersetzte das Brot und hielt den Bauch warm.
    Wenn die Maheu und die anderen zu schnell ihre klare Wassersuppe verdaut hatten, stiegen sie wie in einem Halbtaumel zur Ekstase eines schöneren Lebens empor, zur Verzückung der Märtyrer, die den wilden Tieren vorgeworfen worden.
    Seither war Etienne der anerkannte Führer. In den abendlichen Unterhaltungen gab er Prophezeiungen zum besten in dem Maße, wie das Studium seinen Geist schärfte und sein Verständnis in allen Dingen erweiterte. Er verbrachte ganze Nächte bei den Büchern und empfing immer mehr Briefe. Er hatte sogar den »Rächer« abonniert, ein sozialistisches Blatt, das in Belgien erschien. Diese Zeitung, die erste, die in das Dorf kam, hatte ihm von seiten seiner Kameraden ein ganz außerordentliches Ansehen verschafft. Seine wachsende Volkstümlichkeit erregte ihn von Tag zu Tag immer mehr. Einen ausgebreiteten Briefwechsel unterhalten, mit allen Gegenden der Provinz über das Schicksal der Arbeiter verhandeln, überhaupt ein Mittelpunkt sein, die Welt um sich kreisen sehen: alldies schmeichelte fortwährend seiner Eitelkeit, des ehemaligen Mechanikers, des Kohlenschleppers mit den fetten, schwarzen Händen. Er stieg eine Stufe höher, er trat in dieses verhaßte Bürgertum ein mit einer Genugtuung der Intelligenz und des Wohllebens, die er sich nicht zu gestehen wagte. Nur ein Unbehagen war ihm geblieben, das Bewußtsein seiner mangelhaften Bildung, das ihn verlegen und schüchtern machte, sobald er sich vor einem Herrn in städtischem Rocke befand. Wohl fuhr er mit heißer Wißbegierde fort, sich selbst zu unterrichten, allein bei dem Mangel an einer Methode war die Verdauung des Gelesenen, die Ausgleichung des Stoffes eine langsame, und es entstand eine solche Verwirrung, daß er Dinge wußte, die er nicht begriffen hatte. So geschah es denn, daß er in manchen Stunden der Einsicht eine gewisse Unruhe hinsichtlich seines Berufes empfand, eine gewisse Furcht, nicht der erwartete Mann zu sein. Vielleicht hätte er ein Advokat, ein Gelehrter sein müssen, der die Fähigkeit besaß, zu sprechen und zu handeln, ohne die Kameraden bloß zustellen? Allein eine innere Empörung gab ihm bald seine Kühnheit wieder. Nein, nein, kein Advokat, sie sind alle Hallunken, nützen ihr Wissen aus, um sich auf Kosten des Volkes zu mästen. Es mochte kommen, wie es wollte: die Arbeiter mußten ihre Sache unter sich ausfechten. Abermals wiegte er sich in seinem Traum, ein Volksführer zu werden; er sah Montsou zu seinen Füßen, Paris in einer nebelhaften Ferne; konnte man wissen? Vielleicht werde er eines Tages zum Abgeordneten gewählt und in einem reichgeschmückten Saale die Rednertribüne besteigen, um von da das Spießbürgertum, zu vernichten mit der ersten Rede, die ein Arbeiter im Parlament halte.
    Seit einigen Tagen war Etienne in Verwirrung. Pluchart schrieb Brief um Brief und machte sich erbötig, nach Montsou zu kommen, um den Eifer der Streikenden zu schüren. Es handelte sich darum, eine vertrauliche Besprechung zu veranstalten, deren Obmann der Mechaniker werden sollte; unter diesem Plan barg sich der Gedanke, den Streik auszunützen und die Bergleute, die sich bis jetzt mißtrauisch gezeigt hatten, für die Internationale zu gewinnen. Etienne fürchtete den Lärm, aber er hätte dennoch Pluchart kommen lassen, wenn nicht Rasseneur sich heftig gegen diese Einmengung ausgesprochen hätte. Trotz seiner Macht mußte der junge Mann Rücksicht auf den Schankwirt nehmen, dessen Dienste älter waren und der unter seinen Kunden treue Anhänger hatte. Er zögerte denn auch noch und wußte nicht recht, was er Pluchart antworten sollte.
    Am Montag gegen neun Uhr kam eben wieder ein neuer Brief von Lille, als Etienne mit der Frau Maheu allein in der Wohnstube war. Maheu, den der Müßiggang krank machte, war angeln gegangen; wenn er das Glück haben sollte, unterhalb der Kanalschleuse einen schönen Fisch zu fangen, werde man ihn verkaufen und Brot dafür kaufen. Der alte Bonnemort und der kleine Johannes waren fortgegangen, um ihre frisch eingerichteten Beine zu erproben, während die Kleinen mit Alzire weggegangen waren, die stundenlang auf dem Hügel zubrachte, um daselbst Kohlenstückchen zu sammeln.

Weitere Kostenlose Bücher