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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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sich nicht stören,« flüsterte sie, »wenn man spricht, hat man Durst.«
    Maheu nahm ihr die Platte ab, und Pluchart konnte fortfahren. Er sei gerührt von der guten Aufnahme seitens der Arbeiter von Montsou, sagte er. Er entschuldigte seine Verspätung mit der vielen Plage, die er hatte, und mit seinem Halsweh. Dann erteilte er das Wort dem Bürger Rasseneur, der es verlangt hatte.
    Rasseneur hatte schon neben dem Tische in der Nähe der Bierschoppen Aufstellung genommen. Ein umgelegter Sessel diente ihm als Rednertribüne. Er schien sehr erregt und hustete, bevor er mit lauter Stimme ausrief:
    »Kameraden!«
    Sein Einfluß auf die Grubenarbeiter kam von der Leichtigkeit seiner Rede, von der Gemütlichkeit, mit der er stundenlang sprach, ohne jemals zu ermüden. Er verzichtete auf Gebärden, blieb schwerfällig und lächelnd, hüllte sie in seine Reden ein und betäubte sie, bis alle riefen: »Ja, ja, es ist wahr, du hast recht.« Heute fühlte er jedoch gleich nach den ersten Worten einen dumpfen Widerstand. Er ging denn auch mit Vorsicht vor. Er sprach zuerst gegen die Fortsetzung des Streiks und erwartete die Zustimmung, bevor er auf den Angriff gegen die Internationale übergehen werde. Gewiß, die Ehre gestatte es nicht, auf die Forderungen der Gesellschaft einzugehen; allein, welches Elend! Welche furchtbare Zukunft, wenn man noch lange im Widerstand verharren müsse! Ohne sich für die Unterwerfung auszusprechen, erweichte er den Mut der Leute; er sprach von den hungerssterbenden Arbeiterdörfern und fragte, woher die Anhänger des Widerstandes Hilfe erwarteten. Drei oder vier seiner Freunde versuchtem ihm beizustimmen, was die eisige Stille der überwiegenden Mehrheit nur um so mehr hervortreten ließ und nur dazu beitrug, das Mißfallen zu verschärfen, das diese Worte hervorriefen. Als Rasseneur verzweifelte, sie wieder für sich zu gewinnen, geriet er in Zorn und prophezeite ihnen alles Unglück, wenn sie sich die Köpfe verdrehen lassen würden durch Herausforderungen, die aus der Fremde kommen. Zwei Drittel der Anwesenden erhoben sich verdrossen und wollten ihn am Weitersprechen hindern, weil er sie beschimpfe und wie Kinder behandele, die ihr Benehmen nicht zu regeln wüßten; er aber fuhr fort, in dem Tumulte zu reden, wobei er von Zeit zu Zeit einen Schluck Bier nahm; der Kerl sei noch nicht geboren, schrie er, der ihn hindern werde, seine Pflicht zu tun.
    Pluchart stand aufrecht hinter dem Tische; da er keine Glocke hatte, schlug er mit der Faust auf den Tisch und wiederholte immerfort mit seiner heiseren Stimme:
    »Mitbürger! Mitbürger!...«
    Endlich trat ein wenig Stille ein, und die von dem Vorsitzenden befragte Versammlung entzog Rasseneur das Wort. Die Abgesandten, die bei dem Direktor erschienen waren, führten alle übrigen; alle waren durch den Hunger erbittert und von neuen Gedanken beseelt. Der Beschluß war sozusagen im voraus vereinbart worden.
    »Du hast leicht lachen, denn du ißt«, brüllte Levaque, indem er Rasseneur drohend die Faust zeigte.
    Etienne hatte sich hinter dem Rücken des Vorsitzenden zurückgelehnt, um Maheu zu beschwichtigen, der ganz rot und durch die heuchlerischen Reden des Schankwirtes außer sich gebracht war.
    »Mitbürger!« sagte Pluchart, »gestattet mir das Wort.«
    Tiefe Stille trat ein, und er sprach. Schwer und rauh kamen die Worte aus seiner Kehle hervor, aber er hatte sich auf seinen Kreuz- und Querfahrten daran gewöhnt. Er führte seine Kehlkopfentzündung wie sein Programm im Lande umher. Allmählich ward die Stimme stärker, und er wußte tiefgehende Wirkungen zu erzielen. Seine Arme ausbreitend, seine Sätze mit einem Wiegen der Schultern begleitend, entwickelte er eine Beredsamkeit, die etwas von einer Predigt hatte, eine fromme Art, das Ende der Sätze fallen zu lassen, ein eintöniges Schnarren, das schließlich die Zuhörer überzeugte.
    Er sprach über die Größe und die Wohltaten der Internationale; es war die Rede, die er überall anbrachte, wo er zuerst erschien. Er erklärte den Zweck dieses Bundes, die Befreiung der Arbeiter; er erläuterte den großartigen Bau: unten die Gemeinde, darüber die Provinz, noch höher die Nation, ganz auf dem Gipfel die Menschheit. Langsam bewegten sich seine Arme, schienen die Stockwerke aufeinander zu stellen, richteten die ungeheure Kathedrale der künftigen Welt auf. Dann folgte die Schilderung der inneren Verwaltung; er las die Statuten vor, sprach von den Kongressen, zeigte die wachsende Bedeutung

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