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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Anzahl von Bergleuten bewogen anzufahren. Er behielt die eintönige Stimme bei, gleichsam um auf diese schlimmen Nachrichten einen Nachdruck zu legen; er sprach von dem siegreichen Hunger, von der toten Hoffnung, von dem Kampfe, der bei dem letzten Aufflackern des Mutes angelangt sei. Dann schloß er plötzlich, ohne den Ton zu erhöhen:
    »Unter solchen Umständen, Kameraden, habt ihr heute Abend einen Entschluß zu fassen. Wollt ihr den Streik fortsetzen? Und in diesem Falle: was wollt ihr tun, um die Gesellschaft zu besiegen?«
    Tiefe Stille senkte sich von dem gestirnten Himmel herab. Die in der Finsternis der Nacht unsichtbare Menge schwieg unter dem Eindrucke dieser Worte, die ihr das Herz schwer machten; man vernahm nur ihren trostlosen Atem, der durch die Bäume strich.
    Doch Etienne hatte mit veränderter Stimme wieder das Wort ergriffen. Es sprach nicht mehr der Sekretär der Vereinigung, sondern der Anführer, der Apostel, der die Wahrheit verkündete. Werden sich wortbrüchige Feiglinge finden? fragte er. Sollte man vergeblich einen Monat gelitten haben? Sollte man gesenkten Hauptes zu den Gruben zurückkehren und das ewige Elend wieder beginnen? Sei es nicht besser, sogleich zu sterben und den Versuch zu machen, die Tyrannei des Kapitals zu zerstören, das den Arbeiter zu hungern zwingt? Sich immer wieder dem Hunger beugen bis zu dem Augenblicke, wo der Hunger abermals selbst die Ruhigsten zur Empörung zwingt: war das nicht ein blödes Spiel, das nicht länger fortdauern könne? Er schilderte, wie die Arbeiter ausgebeutet würden, wie sie allein das Ungemach der Krisen, die äußersten Entbehrungen zu ertragen hätten, sobald der Wettbewerb zur Verminderung der Herstellungskosten zwinge. Nein, der Preis der Verzimmerung sei nicht annehmbar; es sei nur eine verhüllte Art der Ersparung, man wolle jedem Manne täglich eine Arbeitsstunde stehlen. Es sei zuviel diesmal; die Zeit sei gekommen, wo die zum äußersten getriebenen Armen und Elenden sich endlich Gerechtigkeit verschafften.
    Er stand da mit hoch erhobenem Arm. Bei dem Worte »Gerechtigkeit« ging es wie ein Zittern durch die Menge, und diese brach in ein Händeklatschen aus, das mit dem Geräusche welker Blätter dahinrollte. Einzelne Stimmen riefen:
    »Gerechtigkeit!... Die Zeit der Gerechtigkeit ist gekommen!«
    Etienne erhitzte sich allmählich. Er besaß nicht die leicht dahinfließende Beredsamkeit Rasseneurs. Oft fehlten ihm die Worte; er mußte seinen Satz drehen und wenden und half sich mit einem Ruck der Schultern heraus. Allein bei diesen fortwährenden Anstößen fand er Bilder von einer wohltuenden Kraft, welche die Zuhörerschaft packte; während seine Gebärden eines Arbeiters auf dem Werkplatze, die eingezogenen und wieder ausgestreckten Arme mit den drohenden Fäusten, die vorspringende, gleichsam zum Beißen bereite Kinnlade gleichfalls eine außerodentliche Wirkung auf die Kameraden übten. Alle sagten: er sei nicht groß, wisse sich aber Gehör zu verschaffen.
    »Die Lohnfrage ist eine neue Form von Sklaverei«, hub er mit noch mehr vibrierender Stimme wieder an. »Die Grube muß dem Bergmann gehören wie das Meer dem Fischer, die Erde dem Bauern gehört... Hört ihr: die Grube gehört euch, euch allen, die ihr seit einem Jahrhundert sie mit soviel Blut und Elend bezahlt habt!«
    Er ging ganz keck an die Erörterung dunkler Rechtsfragen, einer Reihe von Sondergesetzen, in die er sich verlor. Die Erde und das Erdreich gehörten der Nation, nur ein abscheuliches Vorrecht sichere ihre ausschließliche Nutznießung den Gesellschaften; um so mehr als in Bezug auf Montsou die angebliche Gesetzlichkeit der Unternehmungen sich durch die mit den Eigentümern ehemals geschlossenen Lehensverträge verwirkte, wie es im Hennegau ein alter Brauch sei. Das Volk der Bergleute brauche also nur sein Eigentum wiederzuerlangen. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arme auf das ganze Land jenseits des Waldes. In diesem Augenblicke stieg der Mond hinter den Zweigen herauf und warf sein volles Licht auf ihn. Als die noch im Schatten stehende Menge ihn so, von weißem Licht übergossen erblickte, wie er mit offenen Händen den Reichtum verteilte, brach sie von neuem in ein anhaltendes Händeklatschen aus.
    »Ja, ja, er hat recht; bravo!«
    Dann ritt er auf seiner Lieblingsfrage: der Zuerkennung von Arbeitsgeräten an die Gesamtheit, wie er die Sache in einer Redensart wiederholte, die einen köstlichen Kitzel für ihn hatte. Bei ihm war die Entwicklung

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