Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
Herzen höher schlagen zu machen. Wenn Suwarin die Versammlung seiner Anwesenheit gewürdigt hätte, würde er seinen eigenen Gedanken zugestimmt haben, je nachdem er sie wieder erkannt hätte, zufrieden mit den anarchistischen Fortschritten seines Jüngers und befriedigt von dem Programm, mit Ausnahme des auf den Unterricht bezüglichen Artikels, der nur ein Rest von blöder Gefühlsduselei war; denn die heilige und gesunde Unwissenheit sollte das Bad sein, in welchem die Männer ihre Kraft stählten. Rasseneur zuckte verächtlich und wütend mit den Achseln.
    »Laß mich reden!« rief er Etienne zu.
    Dieser sprang von dem Baumstumpf herunter.
    »Sprich; wir wollen sehen, ob sie dich anhören.«
    Schon war Rasseneur auf den Baumstumpf gestiegen und forderte mit einer Handbewegung Stille. Allein der Lärm dauerte fort; sein Name machte die Runde in der Menge von den ersten Reihen, die ihn erkannt hatten, bis zu den letzten, die weit hinten unter den Buchen standen; man weigerte sich ihn anzuhören; er war ein gestürzter Götze, dessen bloßer Anblick seine ehemaligen Getreuen in Wut versetzte. Seine leichte Beredsamkeit, seine einschmeichelnden, gemütlichen Worte, welche diese Leute so lange Zeit entzückt hatten, wurden jetzt als Lauheit bezeichnet, nur gut, um Feiglinge einzuschläfern. Vergebens sprach er in dem Lärm; vergebens versuchte er, jene Beschwichtigungsrede vorzubringen, die er überall vorbrachte: von der Unmöglichkeit, mit Gesetzen die Welt zu ändern, von der Notwendigkeit, daß die gesellschaftliche Entwicklung sich vollziehe; man verhöhnte ihn, man hieß ihn schweigen; seine Niederlage war schlimmer als in der Schenke »zur Gemütlichkeit«, sie war nicht wiedergutzumachen. Man warf schließlich Hände voll gefrorenen Mooses nach ihm; ein Weib rief aus:
    »Nieder mit dem Verräter!«
    Er erklärte ihnen, daß die Grube nicht den Grubenarbeitern gehören könne wie der Webstuhl dem Weber; er sagte, es sei ihm lieber, wenn der Arbeiter an dem Ertrag beteiligt, gleichsam ein Angehöriger des Hauses werde.
    »Nieder mit dem Verräter!« wiederholten tausend Stimmen. -- Es flogen einzelne Steine an seinen Ohren vorbei.
    Da erbleichte er, und die Verzweiflung füllte seine Augen mit Tränen. Er sah seine Existenz vernichtet; zwanzig Jahre ehrgeiziger Kameradschaft verschwanden unter der Undankbarkeit der Menge; im Herzen getroffen und unfähig fortzufahren, stieg er von dem Baumstumpf herunter.
    »Das läßt dich lachen«, stammelte er dem triumphierenden Etienne zu. »Es ist gut ... Ich wünsche, daß dir ein Gleiches geschehe ... Und es wird dir ein Gleiches geschehen, hörst du?«
    Er streckte den Arm weit nach ihm aus, wie um ihm die volle Verantwortlichkeit für alles Unglück zuzuweisen, das er voraussah. Dann entfernte er sich allein durch die stumme und weiße Winterlandschaft.
    Jetzt ertönte neues Geschrei, und man war erstaunt, den Vater Bonnemort zu sehen, der den Baumstumpf erstiegen hatte und zu der lärmenden Menge sprach. Bisher hatten Mouque und er geschwiegen, gleichsam in ihren Erinnerungen an die alten Zeiten versunken. Ohne Zweifel wich er jetzt einem jener plötzlichen Anfälle von Geschwätzigkeit, die in ihm zuweilen die Vergangenheit so heftig aufrührten, daß Erinnerungen in ihm aufstiegen und stundenlang von seinen Lippen flossen. Tiefe Stille war eingetreten, und man lauschte diesem Greise, der weiß wie ein Gespenst im Mondlichte vor ihnen stand; als er Dinge erzählte, die ohne unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gegenstande der Versammlung waren, lange Geschichten, die niemand verstehen konnte, nahm die Betroffenheit noch zu. Er sprach von seiner Jugend, von seinen zwei Oheimen, die in der Voreuxgrube ihren Tod fanden, dann von der Brustkrankheit, die sein Weib hinweggerafft hatte. Doch hielt er seinen Gedanken fest: es sei niemals gut gegangen, und es werde niemals gut gehen. So hätten sich einmal ihrer fünfhundert im Walde versammelt, weil der König die Arbeitsstunden nicht vermindern wollte. Da brach der Alte ab und begann die Geschichte eines andern Streiks: er hatte so viele gesehen! Die Sache endete immer unter den Bäumen hier auf dem Damenplan, weiterhin im Köhlerwalde oder noch weiter beim Wolfssprung. Einmal fror es, ein andermal war es heiß. Eines Abends hatte es so stark geregnet, daß man heimgekehrt war, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Es kamen die Soldaten des Königs und setzte schließlich Flintenschüsse ab.
    »Wir erhoben die Hände wie jetzt;

Weitere Kostenlose Bücher