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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Stößerjungen die Leitern zählen. Dies brachte sie auf den Gedanken, sie ebenfalls zu zählen. Man hatte fünfzehn erstiegen und gelangte jetzt zu einem Aufstiegsabsatz. In demselben Augenblicke stieß sie an die Füße Chavals. Er fluchte und schrie ihr zu, sie solle besser aufpassen. Die ganze Säule blieb stehen und ward unbeweglich. Was war's? Was ging vor? Jeder fand seine Stimme wieder, um zu fragen und zu erschrecken. Die Angst stieg immer drückender aus der Tiefe herauf; das unbekannte Hindernis dort oben schnürte allen immer mehr die Kehle zu, je weiter sie nach oben kamen. Jemand verkündete, man müsse wieder hinabsteigen, die Leitern seien gebrochen. Das war die Sorge aller, die Furcht, sich vor dem Nichts zu befinden. Dann wieder ging eine andere Erklärung von Mund zu Mund: ein Häuer sei von einer Leitersprosse abgerutscht. Man wußte nichts Genaues; in dem Geschrei war nichts zu hören. Soll man denn auf den Leitern übernachten? fragte man. Endlich wurde, ohne daß man Aufklärung bekommen, der Aufstieg fortgesetzt mit derselben langsamen und mühseligen Bewegung, dem rollenden Geräusch der Tritte und dem Tanze der Lampen. Die zerbrochenen Leitern mußten höher sein.
    Bei der zweiunddreißigsten Leiter -- man war eben bei einem dritten Aufstiegsabsatz vorbeigekommen -- fühlte Katharina ihre Beine und Arme steif werden. Zuerst hatte sie ein leichtes Prickeln in der Haut gefühlt. Sie verlor jetzt das Gefühl für Eisen und Holz unter den Füßen und in den Händen. Ein immer mehr anwachsender, brennender Schmerz erhitzte ihre Muskeln. In der Betäubung, die sich ihrer bemächtigte, erinnerte sie sich der Geschichten des Großvaters Bonnemort aus der Zeit, als es noch keinen Aufstiegsschacht gab und kleine Mädchen von zehn Jahren die Kohle auf ihren Schultern hinaufschafften längs der Leitern, die an der kahlen Wand aufgestellt waren. Wenn eine ausglitt oder ein Stück Kohle aus einem Korbe fiel, stürzten gleich drei, vier Kinder ab. Die Krämpfe in ihren Gliedern wurden unerträglich; sie verzweifelte hinaufzugelangen.
    Es traten neue Stockungen ein, und diese gestatteten ihr, sich ein wenig zu verschnaufen. Allein das Entsetzen, das jedesmal von oben herabwehte, vollendete ihre Betäubung. Der Atem der Menschen über ihr und unter ihr floß zusammen, ein Schwindel ging von diesem endlosen Aufstieg aus, dessen Übelkeit sie ebenso durchrüttelte wie die anderen. Sie erstickte fast, betäubt von der Finsternis, verzweifelt über das fortwährende Anstoßen an die Mauern des engen Schlundes. Sie fröstelte auch infolge der Feuchtigkeit; ihr Körper war in Schweiß gebadet, und die Nässe drang in eiskalten Tropfen auf sie ein. Man näherte sich dem Niveau, der Regen fiel so dicht, daß er die Lampen auszulöschen drohte.
    Chaval fragte zweimal Katharina, ohne eine Antwort zu erhalten. Was trieb sie denn da unter ihm? Hatte sie ihre Zunge fallen lassen? Sie konnte ihm doch sagen, ob sie sich noch halte. Der Aufstieg währte schon eine halbe Stunde, ging aber so schwer vor sich, daß er erst auf der neunundfünfzigsten Leiter war. Noch dreiundvierzig waren zurück. Katharina stammelte endlich, daß sie sich noch halte. Er hätte sie wieder eine Blindschleiche genannt, wenn sie ihm ihre Müdigkeit gestanden hätte. Das Eisen der Sprossen mußte ihr jetzt in die Füße einschneiden; ihr war, als säge man sie bis an die Knochen durch. Jedesmal, wenn sie die Hände nach den Pfosten ausstreckte, war sie darauf gefaßt, sie abgleiten zu sehen; sie waren dermaßen zerschunden und steif, daß sie die Finger nicht schließen konnte; und sie glaubte rücklings abstürzen zu müssen; ihr war, als seien ihre Schultern losgerissen, ihre Schenkel aus den Gelenken infolge dieser fortgesetzten Anstrengung. Sie litt besonders durch die geringe Neigung der Leitern, die fast senkrecht standen, so daß sie genötigt war, sich durch die Kraft der Handknöchel emporzuziehen, wobei der Bauch an das Holz gepreßt war. Der Atem der Menge deckte jetzt das Rollen der Tritte; ein ungeheures Röcheln, zehnfach verstärkt durch die engen Wände des Schlundes, erhob sich aus der Tiefe und erstarb an der Erdoberfläche. Jetzt ward ein Ächzen hörbar, Worte flogen von Mund zu Mund: ein Stößerjunge hatte sich an der Kante eines Absatzes den Schädel eingerannt.
    Katharina stieg immer höher. Jetzt passierte man das Niveau. Der Regen hatte aufgehört, ein Nebel verdichtete die Kellerluft, die noch durch den Geruch alten

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