Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
Eisens und feuchten Holzes verdorben wurde. Hartnäckig fuhr sie fort, im stillen zu zählen: einundachtzig, zweiundachtzig, dreiundachtzig; noch neunzehn. Diese immer wiederholten Ziffern allein waren es, die mit ihrem gleichmäßigen Wiegen sie aufrechthielten. Sie hatte nicht mehr das Bewußtsein ihrer Bewegungen. Wenn sie die Blicke erhob, sah sie die Lampen spiralförmig kreisen. Ihr Blut floß; sie fühlte, daß sie sterbe, daß der leiseste Hauch genügen werde, um sie hinabzuschleudern. Das Schlimmste war, daß die nach ihr kommenden Leute jetzt drängten und die ganze Säule aufwärts stürmte, getrieben von der wachsenden Wut über ihre Ermüdung und von dem wütenden Bedürfnisse, die Sonne wiederzusehen. Die ersten waren jetzt aus dem Schachte, es gab also keine zerbrochenen Leitern; doch der Gedanke, daß man sie zerbrechen könne, um die letzten an der Ausfahrt zu hindern, während die anderen sich schon oben verschnaufen konnten, machte sie vollends toll. Als wieder eine Stockung eintrat, wurden wilde Flüche ausgestoßen, alle fuhren fort aufzusteigen, einander stoßend, über Leiber hinwegschreitend, damit man um jeden Preis ins Freie gelange.
    Da stürzte Katharina. Sie hatte einen verzweifelten Hilferuf nach Chaval ausgestoßen. Er hörte nicht; er rang mit einem Kameraden, stieß diesem die Seiten ein, um vor ihm hinauf zu gelangen. Sie wurde fortgewälzt und getreten. In ihrer Ohnmacht hatte sie einen Traum: ihr schien, sie sei eine der kleinen Schlepperinnen von ehemals und ein Stück Kohle, das über ihr aus einem Korbe gefallen, habe sie in die Tiefe des Schachtes hinabgeschleudert wie einen Sperling, den ein Kieselstein getroffen. Nur fünf Leitern waren noch zu ersteigen. Der Aufstieg hatte fast eine Stunde gedauert. Niemals erfuhr sie, wie sie ans Tageslicht gelangt war, von Schultern getragen, durch die Enge des Schlotes festgehalten. Plötzlich befand sie sich in der blendenden Sonnenhelle inmitten einer heulenden, wütenden Menge.
     

Drittes Kapitel
    Schon mit Tagesanbruch war eine zitternde Bewegung durch die Arbeiterdörfer gegangen, jene Bewegung, die jetzt auf allen Wegen in der ganzen Landschaft immer mehr anschwoll. Allein der verabredete Aufbruch konnte nicht geschehen; es verbreitete sich die Nachricht, daß Dragoner und Gendarmen durch die Ebene zögen. Man erzählte, sie seien während der Nacht aus Douai angekommen; man beschuldigte Rasseneur, die Kameraden verraten zu haben, indem er Herrn Hennebeau von ihren Absichten verständigte; eine Schlepperin versicherte, sie habe gesehen, wie ein Diener die Depesche zum Telegraphenamte trug. Die Arbeiter ballten drohend die Fäuste und lauerten beim fahlen Lichte der Morgendämmeruug hinter ihren Fensterläden, ob die Soldaten schon kämen.
    Gegen halb acht Uhr -- die Sonne ging eben auf -- kam ein anderes Gerücht in Umlauf, das die Ungeduldigen beruhigte. Es handle sich bloß um einen militärischen Übungsmarsch, wie ihn seit dem Ausbruche des Streiks der kommandierende General auf Wunsch des Präfekten von Lille wiederholt vornehmen ließ. Die Streikenden verabscheuten diesen Beamten, dem sie vorwarfen, sie durch das Versprechen einer versöhnenden Vermittlung getäuscht zu haben, die sich darauf beschränkte, daß er alle acht Tage die Truppen durch Montsou marschieren lasse, um die Arbeiter in Schach zu halten. Wenn die Dragoner und Gendarmen, nachdem sie in hellem Trab über die hartgefrorenen Straßen der Dörfer geritten waren, wieder ruhig den Weg nach Marchiennes einschlugen, lachten die Arbeiter über diesen einfältigen Präfekten mit seinen Soldaten, die Reißaus nahmen, wenn einmal die Dinge sich hitziger gestalteten. Bis neun Uhr hielten sie an sich, blieben ruhig vor ihren Häusern auf dem Straßenpflaster stehen und blickten den letzten Gendarmen nach. Die Bürger von Montsou schliefen noch in ihren großen Betten. Frau Hennebeau verließ zu Wagen das Direktionsgebäude; sie ließ Herrn Hennebeau ohne Zweifel bei der Arbeit zurück, denn das Haus lag still und geschlossen wie ausgestorben da. Keine der Gruben war militärisch bewacht; es war der verhängnisvolle Mangel an Vorsicht in der Stunde der Gefahr, die natürliche Dummheit der Katastrophen; alle Fehler, die eine Regierung begehen kann, wenn es gilt, die Tatsachen mit Klugheit zu erfassen. Es schlug neun Uhr, als die Bergleute endlich den Weg nach Vandame einschlugen, um sich zu dem Stelldichein zu begeben, das man am vorhergehenden Tage im Walde

Weitere Kostenlose Bücher