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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Toten? Wer war es? Die von Levaque erzählte Geschichte beruhigte sie zuerst und brachte dann eine alpdruckartige Übertreibung hervor: nicht ein Mann, zehn Männer seien zugrunde gegangen und wurden einer nach dem anderen durch den Leichenwagen herbeigeführt.
    Katharina hatte ihre Mutter von einer bösen Vorahnung erfaßt gefunden; bei den ersten Worten, die das Mädchen stammelte, hatte die Mutter ausgerufen:
    »Der Vater ist tot!«
    Vergebens widersprach das Mädchen und redete von Johannes. Ohne weiter hören zu wollen, war die Maheu hinausgestürzt; als sie den Leichenwagen vor der Kirche auftauchen sah, erbleichte sie und drohte umzusinken. Auf den Türschwellen standen Weiber stumm vor Schreck und streckten den Hals vor, während andere dem Karren folgten, zitternd bei dem Gedanken, vor welchem Hause der traurige Zug wohl halten werde.
    Der Karren kam vorüber, und hinter ihm sah die Maheu ihren Mann der Tragbahre folgen. Als man diese vor ihrer Tür abgesetzt hatte und sie Johannes lebend mit seinen gebrochenen Beinen sah, vollzog sich in ihr ein plötzlicher Umschwung, daß sie schier vor Zorn erstickte und tränenlos stammelte:
    »Da hat man's! Jetzt verstümmeln sie uns die Kinder! Beide Beine! Mein Gott, was soll ich mit ihm anfangen?«
    »Schweig!« sagte der Doktor Vanderhaghen, der mitgekommen war, um Johannes zu verbinden. »Wäre es dir lieber, wenn er unten geblieben wäre?«
    Doch die Maheu geriet immer mehr außer sich, umgeben von Alzire, Leonore und Heinrich, die gleichsam um die Wette weinten. Während sie den Verwundeten hinauftragen half und dem Arzte reichte, was er zu dem Verband benötigte, fluchte sie dem Schicksal und fragte, wo sie das Geld hernehmen solle, um Krüppel zu ernähren. Nicht genug an dem Alten, jetzt verlor auch noch der Kleine seine Füße! Sie hörte nicht auf, während auch im Nachbarhause herzzerreißendes Geschrei ertönte; dort jammerten die Frau und die Kinder Chicots über den lebloßen Körper. Es war inzwischen finstere Nacht geworden; die erschöpften Kohlenleute aßen endlich ihre Suppe; das Dorf war in eine düstere Stille versunken, die nur durch den lauten Jammer der Hinterbliebenen des toten Kameraden gestört wurde.
    Drei Wochen waren verflossen. Die Amputation konnte vermieden werden; das Gutachten des Arztes lautete dahin, daß Johannes seine Beine behalten, jedoch hinken werde. Nach einer eingehenden Untersuchung entschloß sich die Gesellschaft, eine Unterstützung von fünfzig Franken zu bewilligen. Außerdem hatte sie versprochen, für den kleinen Krüppel, wenn er hergestellt sei, einen Tagesdienst zu suchen. Das bedeutete nichtsdestoweniger eine weitere Verschlimmerung der Notlage der Familie, denn der Vater war dermaßen erschüttert worden, daß er in ein schweres Fieber fiel.
    Seit Donnerstag fuhr Maheu wieder zur Grube an, und es war heute Sonntag. Am Abend sprach Etienne davon, daß der erste Dezember nahe sei; er hätte wissen mögen, ob die Gesellschaft ihre Drohung zur Tat machen werde. Man blieb bis zehn Uhr im Gespräch beisammen und wartete auf Katharina, die bei Chaval zu verweilen schien. Aber sie kam nicht. Die Maheu schloß in stummer Wut die Türe. Etienne konnte lange nicht einschlafen; ihn beunruhigte dieses leere Bett, in dem Alzire so wenig Platz einnahm.
    Am folgenden Tage kam Katharina immer noch nicht heim. Erst am zweitnächsten Tage erfuhr bei der Rückkehr aus der Grube das Ehepaar Maheu, daß Chaval Katharina bei sich behielt. Er machte ihr so abscheuliche Szenen, daß sie sich entschloß, zu ihm zu ziehen. Um den Vorwürfen zu entgehen, hatte er plötzlich den Voreuxschacht verlassen und sich in Jean-Bart, der Grube des Herrn Deneulin anwerben lassen, wohin sie ihm als Schlepperin folgte. Sie wohnten übrigens bei Piquette in Montsou.
    Zuerst sprach Maheu davon, daß er den Mann ohrfeigen, seine Tochter aber mit Stößen in den Hintern zurückführen werde. Aber dann machte er eine Gebärde der Entsagung; was nütze es? Das gehe immer so; man könne die Mädchen nicht hindern, sich einem Manne anzuhängen, wenn sie Lust dazu hätten. Das beste sei, ruhig die Hochzeit abzuwarten. Allein die Maheu nahm die Dinge nicht so leicht.
    »Habe ich sie etwa geprügelt, als sie diesen Chaval nahm?« rief sie Etienne zu, der sie still und bleich anhörte. »Sie sind ein vernünftiger Mann, antworten Sie! Wir haben ihr ihre Freiheit gelassen, weil -- mein Gott! -- alle darüber hinwegkommen müssen. Ich selbst war schwanger, als der

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