Gerron - Lewinsky, C: Gerron
nur gelacht. Wie konnte man sich vor einem Verein fürchten, bei dem der dicke Effeff Mitglied war?
Es müsste im Leben einen Inspizienten geben, der klingelt, wenn es Zeit ist, Angst zu haben. Andererseits: Wenn es dauernd klingelt, hört man nicht mehr hin.
Olga hat recht: Ich bin ein politischer Analphabet.
Dabei habe ich mich immer für einen Menschenkenner gehalten. Einen Charakter einschätzen aus der Art, wie sich jemand bewegt, einen Lügner an seiner Sprechweise erkennen, wie er manche Worte überbetont, um besonders ehrlich zu wirken, aus tapferen Worten den Feigling heraushören – das kann ich. Kann es auch darstellen, wenn die Rolle es verlangt. Aber meine Menschenkenntnis funktioniert nur, solang ich es mit Einzelmasken zu tun habe.
Dass sich Massen anders verhalten, dass sich aus der Addition von eins und eins und eins nicht drei ergibt, sondern etwas ganz Neues, dass keine Regeln mehr gelten, schon gar keine vernünftigen, wenn es erst einmal Tausende sind oder Hunderttausende oder Millionen – das habe ich viel zu spät begriffen. Vielleicht weil ich selber so gar kein Talent dafür habe, Teil einer Gruppe zu sein.
Die meisten Menschen – nicht alle, aber die meisten – geben den eigenen Verstand so gern an der Garderobe ab wie ihre Kleider im türkischen Bad. Genießen es, sich in die Masse hineingleiten zu lassen wie in eine angenehm warme Badewanne. Wenn dann der Masseur auf ihnen herumprügelt und es tut weh, dann beißen sie die Zähne zusammen und reden sich ein: «Er wird schon wissen,was er tut. Hinterher werde ich mich bestimmt sehr, sehr wohl fühlen.»
Ich hätte es wissen müssen. Aus dem eigenen Beruf. Ein Theaterpublikum reagiert genauso. Als ob es nur einen Kopf hätte. Nur eine Lunge, um «Bravo!» zu schreien oder «Buh!» Aber diese Masse löst sich wieder auf, nach zwei Stunden oder dreien, der eine geht zu Aschinger und der andere zu Horcher, je nachdem, was er sich leisten kann, und sie haben nichts mehr miteinander zu tun.
Außer wenn da einer ist, der mit Massen umzugehen versteht. Dann kann er auch einen Theaterskandal inszenieren. Wie damals beim Baal .
Ich habe viel zu spät gemerkt, dass es in der Politik genau dasselbe ist. Habe die einzelnen Figuren gesehen und nicht die Masse. Habe über den Effeff gelacht, in seiner kackbraunen Uniform. Am 1.April standen die Effeffs dann vor allen Ladeneingängen, und ich konnte nur noch meine Koffer packen und zum Bahnhof fahren.
Wenn ich es rechtzeitig begriffen hätte, würde ich jetzt vielleicht in Hollywood sitzen. Ich habe schon ganz vergessen, wie Orangen schmecken.
Noch viel mehr als beim Effeff habe ich mich beim kleinen Korbinian getäuscht. Der überhaupt nicht klein ist. Ein Kleiderschrank. Einen halben Kopf größer als Max Schmeling, und der ist eins fünfundachtzig. Breite Schultern und mächtige Muskelpakete. Ein Körper zum neidisch werden. Und hieß doch: der kleine Korbinian.
Er kam aus Bayern. Aus einem dieser Provinznester, wo es außer der Brauerei und der Kirche nicht viel gibt. Lief noch nach Jahren mit großen Augen durch Berlin. Als ob er den Verkehr und den ganzen Rummel gar nicht glauben könne. Er war Boxer oder hatte doch eines Tages beschlossen, das zu werden. So wie seine Schulkameraden Schlosser wurden oder Schreiner. War wahrscheinlich bei ihren Raufereien immer der Stärkste gewesen. Begann im örtlichen Turnverein zu trainieren und verlor dort nie einen Kampf.
Seine Leute redeten ihm ein, er müsse unbedingt nach Berlin gehen, nur dort könne sich ein Talent wie seines so richtig entfalten. Wie der jugendliche Held aus Kyritz an der Knatter, den die Damen vom Jungfrauenbund anschmachten, und der deshalb fest davon überzeugt ist, den Jannings und den George an die Wand spielen zu können. Aber wenn er dann in Berlin ankommt, liegt am Anhalter Bahnhof kein roter Teppich bereit. Bei Max Reinhardt schafft er es noch nicht einmal an der Vorzimmerdame vorbei. Irgendwann kriegt er dann doch etwas zu spielen, den dritten Lanzenträger oder eine andere Wurzen mit zwei Sätzen, aber wenn am nächsten Tag die Kritiken erscheinen, muss er feststellen, dass ihn der Ihering und der Kerr noch nicht einmal bemerkt haben. Wenn so einer gescheit ist, fährt er ganz schnell in sein Kaff zurück. Wo sie ihm zuhören, wenn er von seinen Triumphen in der Hauptstadt berichtet. Wenn er dumm ist, bleibt er am Theater hängen und wird dort Inspizient oder Statistenführer. Auch wer nur hinter den
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