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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Shylock ganz anders sprach als sonst. Ohne das ganze Provinzgebembere. Ruhig und sachlich. Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Da war er ein einziges Mal in seinem Leben wirklich gut, der Lazarowitsch von Reckenhausen.
    Die Neher hat also wieder probiert. Bis es dann zum ganz großen Krach kam, ein paar Tage vor der Premiere. Ich weiß nicht mehr, was genau der Auslöser war. Theaterkräche sind wie Kriege. Alleswird sinnlos verwüstet, und hinterher weiß kein Mensch zu sagen, worum es eigentlich ging. Ein Strich hat ihr nicht gepasst. Das Stück war zu lang, und dauernd wurde was gestrichen. Noch zwischen Generalprobe und Premiere flog mehr als eine halbe Stunde raus. Bei der Neher ging es nur um ein paar Sätze, aber sie drehte total durch. Ihre Rolle würde zu klein, das müsse sie sich nicht bieten lassen, und überhaupt, der Brecht solle seinen Scheiß doch alleine spielen. Worauf der nicht, wie er es bei jedem anderen getan hätte, zurückschrie, sondern ihr ganz unterwürfig versprach, die Rolle wieder größer zu machen. Ließ sich einen Tisch auf die Bühne stellen, die Neher setzte sich zu ihm, und dann schrieben die beiden gemeinsam neuen Dialog. Stundenlang. Während wir anderen im Zuschauerraum darauf warteten, dass die Probe endlich weiterging. Bis fünf Uhr früh. Und das letzte Bild noch nicht probiert.
    Alles umsonst. Am Schluss ist die Neher doch abmarschiert. Der Aufricht hat noch ein letztes Mal versucht, sie zurückzuholen. Ist mit einem Karton bei ihr zu Hause aufgekreuzt, in dem war das Hochzeitskleid, das sie als Polly tragen sollte. Hat gedacht, einem so teuren Kostüm könne keine Schauspielerin widerstehen. Sie hat ihn nicht einmal empfangen.
    Er hat dann die Roma Bahn aus dem Ärmel gezaubert, die bei Reinhardt im Ensemble war, aber dort immer nur Wurzen gespielt hatte. Die lernte in vier Tagen den Text und die ganzen schwierigen Lieder, und plötzlich war sie ein Star. So geht’s in dem meschuggenen Beruf.
    Hinterher habe ich erfahren, dass es der Neher nie um einen Satz mehr oder weniger gegangen war, sondern um etwas ganz anderes. Der Brecht hatte einen Haufen Villon-Gedichte in die Dreigroschenoper eingebaut, und die kannte er wieder nur, weil ihn der Klabund darauf aufmerksam gemacht hatte. Noch im Sterben war der auf ihn sauer gewesen, weil er doch immer vorgehabt hatte, aus diesen Texten selber ein Stück …
    Darum ist sie ausgestiegen. Ein Jahr später, als die Dreigroschenoper wieder aufgenommen wurde, hat sie dann doch noch die Polly gespielt. Loyalität ist eine Sache, aber Applaus ist eine andere.
     
    An der Premiere sah es nicht nach Applaus aus. Marenke – ja, so hieß er, nicht Malenke – hatte vergessen, die Drehorgel einzuschalten. Die meine einzige Begleitung gewesen wäre bei der ersten Strophe. Ich kurbelte und kurbelte, und kein Ton kam raus. Man muss bis in die letzte Reihe gehört haben, wie mir das Herz in die Hose rasselte.
    Der Eröffnungssong an der schwierigsten Premiere meines Lebens, und die Musik fällt aus. Das Orchester sitzt hinter mir und kann mir nicht helfen. Vor mir ein Publikum, das nur gekommen ist, um die Pleite der Saison nicht zu verpassen. Blutrünstig. Irgendwo da unten im Dunkeln saßen der Kerr und der Ihering, holten ihre Kritikerkladden raus und notierten: Kurt Gerron: schon Scheiße .
    Und dann ist ausgerechnet dieses Lied der ganz große Erfolg geworden. Die Melodie, die jeder auf der Straße gepfiffen hat. Rund um die Welt. Ich muss es tausend Mal gesungen haben, bei allen möglichen Gelegenheiten. Ohne dieses Lied wäre mein ganzes Leben anders verlaufen. Sogar der Rahm kennt es und ist vielleicht überhaupt nur deshalb auf den Gedanken gekommen, ich solle …
    Nein. Jetzt ist 1928. Jetzt ist Premiere.
    Ich bin ein Star geworden, weil der Harald Paulsen so schöne blaue Augen hat. Unglaublich, aber wahr.
    Er ist ja ein Operettenmann. So ein elastischer Über-die-Bühne-Wirbler. Als wäre er schon mit Lackschuhen zur Welt gekommen. Der an keinem Spiegel vorbeigehen kann, ohne sich zuzulächeln. Eitel bis zum Geht-nicht-mehr. Aber nicht unsympathisch. Größenwahn ist die halbe Miete. Er kann auf der Bühne nur gut sein, wenn er das Gefühl hat, er sei unwiderstehlich. Andere Kollegen stopfen sich eine Hasenpfote ins Trikot.
    Für den Mackie Messer hatte er sich einen Maßanzug machen lassen. Und eine himmelblaue Schleife dazu, exakt dieselbe Farbe

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