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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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seine Nummer zugeteilt. Ich bin der Gefangene mit der Transportnummer XXIV/4-247. Eingeliefert am 26. 2. 1944. Ausgeliefert …
    Das falsche Wort. Aber es passt.
    Auf meiner Karteikarte wird neben dem Eingang auch die Rubrik für den Ausgang schon vorgesehen sein. Nur das Datum fehlt noch und der Vermerk dahinter. V wie Viehwaggon oder S wie Sarg. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eingang, Ausgang. Rahm, der Herr, hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet. Halleluja.
    Wenn sie dann meine Nummer endgültig streichen, da bin ich mir ganz sicher, werden sie das exakt tun. Mit Spaltfeder und Lineal. Damit es anständig aussieht. Wo kämen wir sonst hin?
    Bei unserem Mathelehrer, dem Professor Pirkhaimer, konnte man auch dann eine anständige Note kriegen, wenn man keine einzige Aufgabe richtig gelöst hatte. Solang nur die Schrift sauber war und die Ergebnisse doppelt unterstrichen. Er hätte das Theresienstädter System gut verstanden.
    Alles ist hier bestens organisiert. Sogar die Dinge, die gar nicht existieren. Es gibt exakte Pläne, wie viele Kartoffeln jeder von uns zu kriegen hat. Pro Tag, pro Woche, pro Monat. Nur dass gar keine Kartoffeln da sind, oder doch nur verfaulte. Aber wenn es welche gäbe, würden sie korrekt verteilt. Theoretisch.
    So wie wir auch alle ein theoretisches Bankkonto haben. Wahrscheinlich in irgendeiner Liste auch ein theoretisches Bett und ein theoretisches Bad. Einen theoretischen Aschenbecher für die theoretischen Zigarren. Einen theoretischen Humor, um die Absurdität dieses Affentheaters auch noch komisch zu finden.
    Kalle hätte man das System nicht erklären müssen. In seiner Gulaschkanone hat er genügend theoretische Rationen gekocht.
    Ach, Kalle. Ich fürchte, nicht einmal du hättest es geschafft, da noch drüber zu lachen.
    Und wozu die ganzen Verwaltungen und Listen und Pläne? Damit wir uns einbilden können, es gäbe noch eine Ordnung in derWelt. Die wollen wir nicht stören, und drum machen wir unsere Sache ordentlich.
    Machen wir ihre Sache ordentlich.
    «Bitte saubermachen. Bitte saubermachen. Bitte saubermachen.» Wie ein Automat.
     
    In einem Schaufenster in der Passage Unter den Linden stand viele Jahre ein Reklame-Automat, von dem man mich als Kind jedes Mal nur mit Mühe wegzerren konnte. Ein Mann im Frack, den er abwechselnd links und rechts aufschlug, so dass darunter seine Weste sichtbar wurde. Die war auf der einen Seite schneeweiß und hatte auf der andern einen großen Tintenfleck. Weil er nämlich den falschen Füllfederhalter gekauft hatte.
    Man müsste diesem Mann einen der germanischen Heldentempel errichten, wie sie jetzt Mode sind. Lorbeerkränze vor seinem Standbild niederlegen. Weil er Deutschland besser darstellt als jeder andere. Das ganze Land hat den falschen Füller gekauft. Marke Nazi. Und nun kriegen sie den Fleck auf der weißen Weste nie mehr weg. Dabei sah der Füller im Laden doch so verlockend aus. Mit eingraviertem Hakenkreuz, und wenn man den Deckel abschraubte, erklang Marschmusik.
    Ich habe Politik nie ernst genommen. Nicht ernster als die Entscheidung zwischen zwei Füllfederhaltern. Flecken machen sie alle, und nie sieht man es ihnen vorher an. Verlorene Zeit, sich all die Prospekte durchzulesen oder sich von den Herren Verkäufern den Kopf volllabern zu lassen. Im Krieg haben wir gelernt: Bei Hurrarufen Ohren wegklappen. Ich habe die großen Töne all die Jahre an mir vorbeirauschen lassen wie Monologe bei einem Vorsprechen. Nur der Auftritt hat mich interessiert. Der Stil. Beim Hitler war mir nach zwei Minuten klar, dass ich den Mann nie besetzen würde. Nur schon wegen dieses affigen Schnurrbärtchens. Also hab ich mich nicht weiter um ihn gekümmert und um seinen Trachtenverein.
    Ein Fehler, natürlich. Aber die Figuren, die man zu sehen bekam, waren ja wirklich allzu jämmerlich.
    Der Heitzendorff. Es muss 1926 gewesen sein oder 27, als ich ihn zum ersten Mal in seiner braunen Uniform sah. Ausgerechnet der bierbauchige Effeff, dieser geborene Zivilist. Er fühlte sich in seiner neuen Verkleidung auch sichtlich unwohl. Ein Statist, den man als Pagen verkleidet hat, und der noch nicht recht weiß, wie man sich in Strumpfhosen zu bewegen hat. Wir trafen uns unter der Haustür, und er hat doch tatsächlich vor mir salutiert. Was ihm auch gleich wieder peinlich war. Von wegen höhere Rasse. Aber alte Gewohnheiten sterben langsam.
    Wenn mir später jemand sagte, die SA sei eine gefährliche Organisation, hab ich immer

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