Gerron - Lewinsky, C: Gerron
wie seine Augen. Weil die so noch besser zur Geltung kamen. Als er bei der Kostümprobe in dem Aufzug aus der Kulisse tänzelte, konnte man meinen, er habe das Stück verwechselt. Lehár statt Weill. Gar nicht das, was sich der Brecht für seinen Gangsterboss vorstellte.Dann ging es los. «Die Schleife muss weg!» «Ohne Schleife trete ich nicht auf!» «Ich als Autor …» «Ich als Künstler …» Und Krach und Türenschlagen und «Ich betrete dieses Theater nie mehr.» Bei Schwanneke erzählten sich die Kollegen schon wieder, jetzt sei die Produktion endgültig geplatzt.
Wegen einer himmelblauen Seidenschleife.
Der Brecht hat dann die Lösung gefunden. Hat gesagt: «Dann lasst ihm halt seine blöde Schleife. Ich schreibe eine neue Moritat, die den Mackie Messer als den gefährlichsten aller Gangster einführt. Wenn die Figur so vorbereitet ist, kann er von mir aus auf die Bühne hüpfen wie Graf Koks von der Gasanstalt, mit seinem Stöckchen und seiner Schleife. Das gibt dann sogar einen interessanten Kontrast.»
Am nächsten Tag war der Song da, und der Weill hatte ihn auch schon komponiert.
Mein Lied. Das mir so viel Glück gebracht hat und so viel Unglück.
Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht.
Der Paulsen war über das Lied nicht glücklich. Weil ich es singen sollte. Er wollte den Löwen auch spielen. Hat tausend Gründe gefunden, warum es besser wäre, wenn Mackie Messer selber … Aber der Brecht ist stur geblieben. Obwohl er mich für einen ganz schlechten Schauspieler hielt. Eigentlich für gar keinen Schauspieler. Genau deshalb hatte er mich engagieren lassen. Wie den Naftali Lehrmann. Für den Bettler einen Kommunisten, von wegen der richtigen Überzeugung, für den Polizeichef einen Revueschmieranten wegen seiner Talentlosigkeit. «Revueleute sind sozial aggressiver», hat er zum Aufricht gesagt. Was immer das heißen mag.
Bei der Premiere kam der Song überhaupt nicht an. Das hatte nichts damit zu tun, dass die Drehorgel nicht funktionierte. Die ganzen ersten Szenen sind abgestunken. Die Leute saßen auf den Händen. Der Aufricht hat in Gedanken schon die Konkurspapiere ausgefüllt. Und dann, ganz unerwartet, kippte das Publikum. Ich sang mit dem Paulsen den Kanonensong, und sie fingen an zu jubeln.Wollten nicht mehr aufhören. Wir hatten verabredet, dass es keine Dakapos geben sollte, aber sie applaudierten so lang, bis wir das Lied wiederholten. Und das nächste und das übernächste.
Ein Erfolg, wie ihn sich jeder Schauspieler erträumt. Wie man ihn nur einmal in seiner Karriere erlebt. Kritiken, als ob Kalle sie sich ausgedacht hätte, mit seinem Hang zur Übertreibung. Die Leute haben sich um Karten geprügelt. Von jenem Tag an war ich ein Star. Wo ich auch hinkam, haben sie sich angestoßen: «Das ist der Gerron. Der mit dem Haifischsong.» Und ich habe …
Ich weiß, wie Olga das nennen würde, was ich da mache. Ich laufe im eigenen Kopf davon.
Durch das Fenster höre ich den Turkavka mit seinem tschechisch eingefärbten Statistengemurmel. «Bitte saubermachen. Bitte saubermachen. Bitte saubermachen.» Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber. Dr. Springer hat das Ritual nach der Ruhrepidemie eingeführt. Zur Förderung der Hygiene. Wer zum Heilen keine Medizin hat, muss wenigstens vorbeugen. Vor jeder Latrine in Theresienstadt steht seither ein Wasserfass, und daneben sitzt ein alter Mann oder eine alte Frau. Die nichts zu tun haben, als die Leute daran zu erinnern, dass sie sich die Hände waschen sollen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, aber die Ruhr ist einigermaßen unter Kontrolle.
Unser Klassenprimus ist an der Ruhr gestorben. Die einzige Aufgabe, die ich besser gelöst habe als er. Hanselmann. Walter Hanselmann. Notabítur, er wird gekennzeichnet werden.
«Bitte saubermachen. Bitte saubermachen. Bitte saubermachen.» Es ist schon spät. Die Leute kommen von der Arbeit zurück. Auch das Scheißen hat seine Hauptverkehrszeit.
Es ist alles bestens organisiert hier in Theresienstadt. Organisieren beruhigt. Wer organisiert, kann sich einreden, die Dinge seien beherrschbar.
Die SS weiß das. Verbrecher waren schon immer gute Psychologen. Sie haben uns Judenräte einrichten lassen. Ältestenräte. Verwaltungen. Tausend Büros, die Listen schreiben für Essenszuteilungenund Deportationen. Wir machen ihre Arbeit für sie. Selbstmord mit doppelter Buchführung. Eine sehr deutsche Art, Opfer zu sein.
Jeder, der nach Theresienstadt geschickt wird, bekommt
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