Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Mist schuld wäre, den wir da zu spielen hatten. «Missgeburt», hat er mich genannt. «Fetter Arschkomiker», hat er mich genannt. «Wenn Sie morgen mager werden», hat er gesagt, «dann sind Sie brotlos!»
Sie haben sich getäuscht, junger Mann. Ich wurde nicht brotlos, weil ich mager wurde. Andersrum: Ich wurde mager, weil Judski-Sein in unserer Zeit eine brotlose Kunst ist. Eine fleischlose Kunst. In Westerbork brauchte man noch ein Scheuermittel, um sein Essgeschirr sauberzukriegen. In Theresienstadt reicht Wasser aus. Wo kein Gramm Fett am Essen ist, bleibt auch nichts kleben.
Man hat mir, auf Grund meines Leidens – und wohl auch auf Grund meiner Prominenz –, doppelte Essensportionen bewilligt. Aber zweimal zu wenig ergibt noch lang nicht genug. Das dumpfe Gefühl im Bauch geht davon nicht weg. Dieser Druck, als ob die Leere etwas Körperliches wäre. Das sich immer mehr verhärtet. Sich einkapselt. In einem drin wächst wie ein Geschwür. Ein Geschwür aus Mangel.
Dabei kommt diese Gier gar nicht vom leeren Magen. Das weiß ich noch aus dem Medizinstudium. Es ist eine experimentell bewiesene Tatsache: Selbst wenn man jemandem den Magen rausschneidet, empfindet er noch Hunger. Wenn er an der Gastrektomie nicht stirbt. Was, wenn es nichts zu essen gibt, durchaus erstrebenswert wäre.
Aber es fühlt sich an, als ob es aus dem Magen käme.
Als ich sechs war oder sieben, ich ging auf alle Fälle schon zur Schule, habe ich beim Spielen im Tiergarten einmal ein Püppchen aus Zelluloid gefunden und in meiner Botanisierbüchse nach Hause geschmuggelt. Dort habe ich ihm mit der Schere aus Mamas Nähzeug ein Loch in den Bauch gebohrt. Beim ersten Versuch bin ich abgerutscht und fürchtete noch monatelang, der Kratzer auf dem Fensterbrett könne mein Verbrechen verraten. Ich weiß nicht mehr, was ich in dem Bauch vermutete, aber dass da nichts war, absolut nichts, außer ein paar Zelluloid-Splittern von meiner ungeschickten Operation, das war eine große Enttäuschung für mich.
Es war eine billige Puppe. Primitiv. Der Mund nur aufgemalt und zum Füttern völlig ungeeignet. Sie muss ständig Hunger gehabt haben.
Das Schlimme ist, dass der Hunger nicht nur den Bauch besetzt wie ein Inkubus. Inkubus? Wo habe ich dieses Wort her? Er übernimmtauch den Kopf und lässt einen an nichts anderes mehr denken. Man nähert sich der Essensausgabe, immer kann Olga das nicht übernehmen, und schon beginnt die Maschine zu rattern. Versucht auszurechnen, welcher Platz in der Warteschlange der vorteilhafteste wäre. Es gibt zwei Arten von Suppenschöpfern, das hat man schnell gelernt: die einen, die ihre Kelle nur oberflächlich eintauchen, so dass man sich bei ihnen möglichst spät anstellen muss, weil Kartoffeln oder ganze Linsen ja auf den Boden des Topfes sinken und deshalb bei den letzten Portionen reichlicher herausgefischt werden als bei den ersten. Und die andern, die Tiefschöpfer, bei denen man früh dasein muss, weil bei ihnen am Schluss nur noch leere Brühe übrig bleibt, nicht viel mehr als heißes Wasser. Wenn die Suppe aber schwimmende Bestandteile hat …
Inkubus. Jetzt weiß ich wieder, wo mir das Wort zum ersten Mal begegnet ist. Auf einem Programmzettel. Das jüdische Theater aus Moskau gastierte mit dem Dibbuk , und es kam in der Inhaltsangabe vor. Ich musste Olga fragen, was es bedeutet. Olga weiß die überraschendsten Dinge. Wo Tauben nisten, wenn man Spiegeleier braucht.
Hungern macht nicht schlank. Schlank war ich mit siebzehn. Mama wollte mich herausfüttern. Sie fand es furchtbar, dass man im Badeanzug meine Rippen zählen konnte. Aber alle Buttersoßen der Welt ließen meinen Bauch nicht runder werden. Dazu brauchte es ein eisenhaltiges Mittel. Einen Granatsplitter.
Wenn man einmal dick war – nein, ich war nicht dick, ich war fett –, wenn man einmal fett war, bleibt man das sein Leben lang. Da hilft die konsequenteste Zwangsdiät aus der Lagerküche nichts. Ich bin ein magerer fetter Mann. Mit den traurigen Brüsten einer alten Frau. Mein Bauch, die Haut, die einmal meinen Bauch umspannte, hängt an mir herunter wie eine Schürze. Wie um den Schaden zu verdecken, den der Granatsplitter angerichtet hat.
Hunger macht hässlich.
Aber meiner Karriere hat die Magerkeit nichts geschadet, Herr Brecht. Da haben Sie sich geirrt. Eben hat man mir den größten Film meines Lebens angeboten. Mit einer ganzen Stadt als Komparserie.Ich kann frei entscheiden, ob ich ihn machen will. Völlig frei. Ich
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