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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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–, in dem sie mit Leni Riefenstahl posierte. Und über das sie sich dann furchtbar ärgerte, weil die Schärpe, die sie um die Hüften drapiert hatte, verrutscht war und man auf der Aufnahme ihr Bäuchlein sehen konnte. Das war ihr privates Staatsgeheimnis: dass sie eigentlich mollig war.
    Überhaupt war sie mit ihrem Körper nie zufrieden. Im Atelier wollte sie immer nur von vorn aufgenommen werden. Die Scheinwerfer voll im Gesicht. Im Profil fand sie ihre Nase zu groß. Und dabei hatte sie sich die, wie man munkelte, schon einmal von einem Chirurgen verkleinern lassen. Der Sternberg hat dann die Lösung für sie gefunden. Von dem konnte man wirklich eine Menge lernen. Ein kleiner Strich mit Silberfarbe auf dem Nasenrücken, und ein Scheinwerfer direkt von oben. Seit dem Tag fraß sie ihm aus der Hand.
    Dass sie die Rolle im Blauen Engel überhaupt bekam, war reiner Zufall. Der Sternberg ging eines Abends ins Berliner Theater. Weiler sich die Valetti und den Albers ansehen wollte, die er beide schon für den Engel engagiert hatte. Aber Augen hatte er dann nur für Marlene. Obwohl die in den Zwei Krawatten gerade mal einen einzigen Satz hatte. Am nächsten Tag kam er ins Atelier und sagte: «Ich hab unsere Lola gefunden.» Bei der Ufa, das weiß ich von Otto, war man von dem Vorschlag nicht begeistert. Dem Jannings und dem Pommer war die Marlene einfach zu gut gepolstert. «Der Popo ist ja hübsch, aber brauchen wir nicht auch ein Gesicht?», soll jemand gesagt haben. Aber der Sternberg drohte mit sofortiger Abreise und setzte durch, dass sie zu Probeaufnahmen eingeladen wurde.
    Da wäre ich gern dabeigewesen. Marlene dachte nämlich, es gehe um eine uninteressante Nebenrolle, und kam nur widerwillig angeschlurft. «In einem Kleid», erzählte Otto, «das man bei den Wandervögeln hätte als Zweimannzelt brauchen können.» Irgendwie mussten die überschüssigen Pfunde ja kaschiert werden. Nicht mal den Hut wollte sie abnehmen. Und zum Vorsingen scheint sie auch keine Lust gehabt zu haben. Aber das war es gerade, was den Sternberg begeisterte. Diese Leck mich -Miene. Endlich mal was anderes als all die Lächelsusen, die er sich hatte ansehen müssen.
    Er hat dann auch besonders fleißig mit ihr gearbeitet. Auch nachts in seiner Hotelsuite.
     
    Olga kann nicht verstehen, warum ich diesen Branchenklatsch nicht loslassen kann. «Das ist doch alles nicht mehr wichtig», sagt sie. Aber gerade weil es unwichtig ist, gerade weil es keine Bedeutung mehr hat, gerade weil es keinen mehr interessiert, ob ich im Blauen Engel mitgespielt habe oder nicht, gerade weil niemand mehr die alten Geschichten hören will, wer mit wem und wer gegen wen, an welchen Tisch man sich in der Ufa-Kantine setzen muss und an welchen auf gar keinen Fall, gerade weil das alles so weit weg ist, so total unwirklich, gerade weil mir niemand ein Stück Brot dafür gibt, gerade deshalb brauche ich es. Ich kann mir nur noch mit Erinnerungen beweisen, wer ich bin. Wer ich einmal war.
    In Westerbork waren Leute, die hatten in dem einen Koffer, den man ihnen erlaubte, lauter Photoalben mitgebracht, Schulzeugnisse und Diplome. «Hier sitze ich am Strand», haben sie gesagt, «und da gab es diesen Limonadenverkäufer. Wenn man Durst hatte, brauchte man nur mit den Fingern schnipsen. Hier ist mein erster Schultag», haben sie gesagt, «die Hosen waren ganz neu, und ich habe sie schon am ersten Tag zerrissen. Das da sind meine Eltern», haben sie gesagt, «und das meine Großeltern.» Dabei waren die Großeltern schon tot und die Eltern wahrscheinlich auch, hatten auf einer Liste gestanden, und man hatte nie mehr etwas von ihnen gehört. Ich habe keine Photographien, und Mamas Sammlung mit Programmzetteln und Kritiken wird dem Effeff schon lang den Ofen angeheizt haben. Ich habe meine Erinnerungen. Das einzige, das mir niemand wegnehmen kann.
    Olga braucht das nicht. Sie lebt in der Gegenwart. Auch jetzt noch, wo man überall lieber wäre als hier und heute. Aber ich … Als wir nach Theresienstadt kamen, kannte hier jeder den Professor Walde und den Professor Strecker. Es gibt sie nicht mehr, kurz nach der Verschönerungsaktion sind beide auf Transport gegangen. Haben sich wahrscheinlich noch im Viehwaggon gestritten. Sie waren Spezialisten auf demselben Gebiet, Geschichte des Mittelalters, der eine hatte in Königsberg gelehrt und der andere in Stralsund. Hatten wohl schon ihr ganzes Leben in Fußnoten gegeneinander gestichelt und sich auf Konferenzen

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