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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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verehrter Herr Gerron, dass wir unter diesen Umständen …» Leider, leider, leider.
    Ich also nach Paris zurück und habe dort, Idiot, der ich bin, fast mein ganzes restliches Geld in diese Music-Hall-Filmchen gesteckt. Selber produziert und selber damit baden gegangen. Keine Sau wollte etwas davon wissen. Sowenig wie von mir. Ich war als Regisseur nicht gefragt und als Schauspieler unmöglich. Ich hätte mich nur lächerlich gemacht mit meinem Französisch. Miroir, miroir.
    Der Brecht hatte schon recht mit dem, was er damals in Paris sagte. Er hat meine Lage exakt diagnostiziert. Ein riesiger Haufen Scheiße.
     
    Warum gibt es kein Handbuch für Flüchtlinge? Das müsste sich verkaufen wie warme Semmeln. Wo wir doch in alle Richtungen ausgeschwärmt sind. Deutschland ist eine Exportnation. Hat seine Judskis in die ganze Welt verschickt. Bis es keine Abnehmer mehr gab und sie angefangen haben, den Überschuss zu verschrotten.
    In der Bibliothek von Theresienstadt stehen Goethes Werke in zwanzig verschiedenen Ausgaben. Aber nirgends ein praktischer Ratgeber für Emigranten. Damals, in den ersten Jahren, hätten wir dringend so etwas gebraucht. Mit Drehbuch spielt man besser. Wir haben die einfachsten Dinge nicht gewusst. Die Grundregeln.
    Dass man in Holland nicht probieren darf, einen Beamten zu bestechen. Weil der sonst beleidigt ist. In Frankreich beleidigt man ihn, wenn man es nicht versucht.
    Überhaupt, der Umgang mit Amtsstellen. Ein ganz wichtiges Kapitel. Gegenüber der Polizei nie allzu unterwürfig auftreten. Das macht verdächtig. Polizisten sind es gewohnt, dass die Leute aufbegehren. Außer in Deutschland natürlich.
    Dafür muss man sich auf Einwohnermeldeämtern, ganz egal in welchem Land, so untertänig aufführen wie bei einer Audienz am Königshof. Wer über die Stempel herrscht, herrscht über die Menschen. Und lässt sie das spüren. Wer auf Paragraphen reitet, kann auf Fußgänger keine Rücksicht nehmen. Der Emigrant ist immer Bittsteller und darf das nie vergessen. Ich könnte Kurse geben über den richtigen Grad der Rückgratkrümmung.
    Tausend Dinge, und keiner bringt sie einem bei. Dass man amtliche Formulare immer mit Bleistift ausfüllt und nie mit Füller. Damit man die Fehler wegradieren kann und nicht jedes Mal ganz von vorn anfangen muss. Fehler macht man immer. Dazu sind Formulare da. Beim Vreemdelingendienst in Amsterdam gab es zwei Beamte, die hatten ihre Schreibtische nebeneinander. Beim einen musste ich die Rubrik Anzahl der Kinder mit Null ausfüllen, sonst akzeptierte er das Papier nicht. Der andere bestand darauf, dass es keine heißen müsste. Auch so lernt man Holländisch. Aantal kinderen: geen .
    Wenn es eine Rubrik gegeben hätte Grund der Kinderlosigkeit , was hätte ich da wohl eintragen müssen? Beim einen und beim anderen?
    Man lernt fremde Sprachen nicht aus dem Wörterbuch. Das Unausgesprochene steht dort nicht drin. Diese französische Handbewegung, die nein bedeutet, auch wenn der Mund ja sagt. In Holland der Blick an dir vorbei, wenn dir einer nicht die Wahrheit sagt. Sie sind dort im Lügen nicht geübt. Der österreichische Charme. Solang du dir das nicht übersetzen kannst, bleibst du der Fremde. Was in allen Sprachen dieser Welt heißt: das Arschloch.
    Ja, so ein Handbuch müsste es geben. Mit all den Sätzen, die man als Flüchtling immer wieder braucht. «Ich würde Ihnen ja gern meinen Pass vorweisen, aber ich bin staatenlos.» «Nein, ich kenne hier niemanden, der für mich bürgen kann.» «Früher war ich mal Schauspieler, jetzt bin ich gar nichts mehr.»
    Dazu die ganz praktischen Dinge. Kein Zimmer mieten, in dem man keine Kochplatte anschließen darf. Außer man will auf warme Mahlzeiten ganz verzichten. Wichtiger als jede noch so schöne Aussichtist ein Ort, wo die Wäsche schnell trocknet. Je weniger Kleider man hat, desto öfter muss man sie waschen.
    Zu dem Thema müsste es eine Fußnote geben, speziell für Theresienstadt. Wer einen Berechtigungsschein für die Wäscherei haben will, muss sich mit dem Ältestenrat gut stellen.
    Einen Lehrfilm müsste man drehen. Wozu bin ich Regisseur? Typische Situationen in heiteren Spielszenen. Dazwischen immer wieder mal ein fröhliches Lied. Ich ziehe gern von Land zu Land, denn ich bin ein Emigrant.
    Halt.
    Ich laufe schon wieder davon. Emigriere in Phantasien. Erzähle mir selber Geschichten.
    Aber Rahm wird sich darüber nicht amüsieren. Er will einen Film von mir haben. Ein Konzept für einen Film.

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