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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Mich konnte er nicht darum fragen. Hatte die Straßenbahn nach Den Haag genommen und war in den Zug gestiegen. Ein Mann, der mehr Heimweh hatte als Vernunft.
    «Alte Leute tun so was», hatte der Politieagent gesagt.
    Tigges war sichtlich erleichtert, dass es jetzt raus war. «Vielleicht habe ich da einen Fehler gemacht», sagte er. «Aus bester Absicht, das müssen Sie mir glauben, gnädige Frau, aber eben doch ein Fehler. Weil mir Ihr Mann doch so sympathisch war.»
    Olga hatte sich am schnellsten wieder gefasst. «Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie uns informiert haben», sagte sie. «Aber jetzt ist es wohl besser, wenn Sie uns allein lassen.»
    Der dicke Herr Tigges blieb sitzen. «Ich bin nicht nur deshalb gekommen», sagte er und schenkte mir sein bestes Verkäuferlächeln. «Das Geld, das ich Ihrem Herrn Vater geliehen habe – kann ich das bitte wiederhaben?»
     
    Vier Tage später kam Papa zurück.
    Ich war nicht zu Hause, als er kam. Ich hatte im Atelier zu tun. Die Arbeit musste gemacht werden. Ich weiß also nur aus Olgas Erzählung, dass Papa hereingekommen ist, einfach hereingekommen. Ohne Erklärung. Als ob er nur mal eben auf dem Postamt gewesen wäre.
    Die beiden Frauen, Olga und Mama, hatten den Tisch fürs Abendbrot gedeckt, obwohl keine von ihnen Hunger hatte. Mama brauchte diese pünktlichen Rituale, um ihren Tag zusammenzuhalten. Sie hörten Schritte im Flur und dachten, ich wäre früher nach Hause gekommen als vorgesehen. Aber es war Papa. Ein bisschen gebückt, das fiel Olga auf. Als sie ihn umarmen wollten und mit Fragen bestürmen, winkte er ab, schreckte fast ein bisschen zurück, schien es ihnen, und sagte ganz leise: «Ich habe keinen Hunger.» Ging wieder hinaus und legte sich ins Bett.
    Die Reise wird ihn erschöpft haben, dachten sie. Aber es kann nicht einfach Erschöpfung gewesen sein.
    Wir haben nie erfahren, was er in Berlin erlebt hat. Er weigerte sich, darüber zu reden. Nur eine Sache hörten wir von ihm, eigentlich nur einen Satz, und den mit so fragender Stimme, als ob er sich die eigenen Worte nicht glauben könne. «In unserer Wohnung lebt jetzt der Heitzendorff.» Noch Jahre später schüttelte er manchmal ohne Anlass den Kopf und sagte staunend: «Der Heitzendorff.»
    Nach dem Besuch von Herrn Tigges hatte ich Telegramme nach Berlin geschickt und dabei festgestellt, wie wenige Leute mir einfielen. So wenige Menschen, auf die ich mich verlassen konnte. Otto Burschatz natürlich, und noch der eine oder andere, mit dem ich mich bei der Arbeit gut verstanden hatte. Aber, und das war jämmerlich für so viele Jahre in einer Stadt, da war nicht ein einziger Name außerhalb meines Berufes dabei. Ich scheine kein großes Talent für Freundschaften zu haben.
    Otto gab sich alle Mühe. Ging sogar in die Klopstockstraße und redete mit Heitzendorff. Nein, sagte der, den Herrn Gerson habe er seit vielen Jahren nicht gesehen. Seines Wissens sei der ins Ausland verzogen. «Ich wusste, dass er lügt», sagte Otto, «und auch, dass er die eigene Lüge schon in ein paar Wochen glauben würde.»
    Das war Jahre später, als Otto uns in Amsterdam besuchte. Vorher wusste ich nichts von diesen Einzelheiten. Auch nicht, dass Otto auch in der Leipziger Straße gewesen war, unter dem Vorwand, er habe für einen Film ein Kleidergeschäft auszustatten und denke an einen größeren Ankauf ausgemusterter Modelle. Die Firma hieß immer noch Max Gerson & Cie. , aber jetzt gab es die Compagnie wirklich. Ein fremder Mann saß im Chefbüro. Hatte Papa nie gekannt oder behauptete das wenigstens. Den Firmennamen werde man ohnehin bald ändern, heutzutage Gerson zu heißen, das sei doch eher peinlich.
    So hat es mir Otto in Amsterdam erzählt. Damals schickte er mir nur ein Telegramm: GEWÜNSCHTE WARE LEIDER NICHT LIEFERBAR . Er hatte früher als ich begriffen, dass auch das Postgeheimnis arisiert worden war.
    Ich weiß nicht, was Papa in Berlin zugestoßen ist. Ich glaube nicht einmal, dass es etwas Spektakuläres war. Aber als er zurückkam, war etwas in ihm kaputtgegangen. Zerbrochen. Ein gebrochener Mann.
    Ich stelle mir vor, wie er in Berlin seine alten Bekannten gesucht hat, und keiner war mehr da. Die ganzen Judski-Kabarettisten hatten sich nach Holland abgesetzt – warum sollte es bei den Konfektionären anders sein? Oder er hat den einen oder anderen angetroffen, und die haben ihm erzählt, wie es wirklich aussah. Wenn man nicht Tigges hieß, sondern Bernheim oder Wormser. Ich denke, dass ihm in den

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