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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Der Rest des Blattes leer.
    Papa war schon einige Zeit nicht gut in Schuss gewesen. Hatte sich in Holland nie richtig eingelebt. Was nicht an den Holländern lag, die uns wirklich gastfreundlich aufgenommen hatten. Sondern an der Tatsache, dass es hier für ihn nichts zu tun gab. Er war leere Tage nicht gewohnt. Wenn er aus alter Gewohnheit wieder viel zu früh aufgestanden war, wenn er sorgfältig seinen Schnurrbart gebürstet und sich angekleidet hatte, korrekt wie eh und je, wenn er die eine Tasse Kaffee getrunken hatte – er frühstückte nicht, das hatte er in Berlin nie getan, warum sollte er es sich hier angewöhnen? –, dann wusste er nichts mehr mit sich anzufangen. Ihm fehlte die vertraute Routine, der Gang in die Firma, die tägliche Post, der Konfektionärsstammtisch, wo man Geschäfte abschloss und über die schlechten Zeiten klagte. Papa, der sich selber immer als Revoluzzer gesehen hatte, als Liebhaber der Veränderung, konnte sich andie neuen Lebensumstände nicht gewöhnen. Er hatte kein Talent für das Exil, der Glumskopp.
    Mama war da anders. Nicht beweglicher als er, ganz im Gegenteil. Aber sie hatte diese zahllosen äußerlichen Regeln, die man ihr in Bad Dürkheim eingetrichtert hatte. An denen konnte sie sich festhalten. Solang die Herren aufstanden, wenn sie einen Raum betrat, solang niemand die Gabel zum Mund führte, bevor er das Messer hingelegt hatte – solang war ihre Welt in Ordnung.
    Jahre später, als sie in der Schouwburg auf ihren Abtransport wartete, als wir zum letzten Mal nebeneinandersaßen und einen mageren Eintopf löffelten, sagte sie zu mir: «Aber Kurt, man stützt doch nicht die Ellbogen auf den Tisch!» Dabei war da gar kein Tisch, nur die Rückenlehne des nächsten Klappstuhls.
    Meine überkorrekte Mutter wollte nicht, dass wir wegen Papas Verschwinden die Polizei alarmierten. Das konnte einen schlechten Eindruck machen. «Und ihm würde es nicht recht sein», sagte sie. Sie kannte ihn gut. Als ich mich damals verlaufen hatte, als mich diese fremde Frau, die Nougat-Prinzessin, nach Hause brachte, da war er nicht wütend gewesen, weil ich ausgebüchst war. Sondern nur, weil er jetzt der Polizei melden musste, ich sei wieder da, und sie könnten den Alarm abblasen. Er machte sich nicht gern lächerlich.
    Ich bin dann natürlich doch hingegangen. Der Politieagent war sehr höflich. Er nickte die ganze Zeit mit dem Kopf, wie man es tut, wenn einem jemand etwas erzählt, das man schon weiß. Als ob jeden Tag ein halbes Dutzend Söhne bei ihm vorbeikämen und das Verschwinden ihrer Väter meldeten. «Alte Leute tun so was», sagte er. Ich hatte Papa nie als alt empfunden. Obwohl er unterdessen auch schon auf die siebzig zuging. «Meistens tauchen sie von selber wieder auf», sagte der nette Polizist. «Wir werden uns natürlich darum kümmern. Die Strömungen kennen wir ja.» Ich dachte zuerst, ich hätte das Wort falsch verstanden, so gut war mein Holländisch damals noch nicht. Aber er hatte wirklich Strömungen gemeint. Stromingen. «Ertrunkene werden immer am selben Ort angespült», erklärte er freundlich. Und nickte immer noch.
    Ich habe gelacht, obwohl ich mir wirklich Sorgen machte. Papa als Wasserleiche, das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. In der ganzen Zeit, in der wir nun schon in Scheveningen waren, hatte er nicht ein einziges Mal auch nur einen Fuß ins Meer gesetzt. «Salzwasser ist schädlich für die Haut», hatte er gesagt. Hatte das irgendwo gelesen und war nicht davon abzubringen. Ins Wasser war er bestimmt nicht gegangen.
    Nur Strandspaziergänge hatte er gemacht. Zu den Zeiten, wo auch die Kurgäste unterwegs waren, um sich in der Seeluft den Appetit fürs Mittagessen zu holen. Es schien ihn zu trösten, dass es außer ihm noch andere Müßiggänger gab. Bei besonders schönem Wetter mietete er sich einen Strandkorb und mimte den Sommerfrischler. Mit Strohhut. Die Rolle, so schien er sich das ausgelegt zu haben, war einem Berliner Konfektionär angemessener als die des Flüchtlings.
    Und jetzt war er verschwunden. Ich halte es nicht mehr aus , hatte er geschrieben.
     
    Olga, praktisch wie immer, wollte sich nicht auf die Polizei verlassen. «Wir sollten herumfragen», sagte sie. «Vielleicht können wir herausfinden, wer ihn zuletzt gesehen hat.» Worauf Mama die Fassung verlor und zu weinen begann. In ihrer Angst hatte sie gehört: «… wer ihn zuletzt lebend gesehen hat.»
    Wir überlegten noch, was wir am besten tun sollten, als es an der

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