Gerron - Lewinsky, C: Gerron
ein Mann muss eine Aufgabe haben.»
Papa hatte es ihm zuerst gar nicht sagen wollen. Hatte etwas von Magenbeschwerden erzählt, einfach Mamas Symptome, die er ja hundert Mal gehört hatte, übernommen und als seine eigenen ausgegeben. Die seien es gewesen, die ihn zu einer Pause gezwungen hätten, zur Kur in Scheveningen. Aber jetzt gehe es ihm schon besser. Nur noch ein paar Wochen, dann werde er nach Berlin zurückfahren. Seine Firma wieder selber in die Hand nehmen.
Es muss ihm gutgetan haben, sich das auszumalen.
Schließlich war er mit der Wahrheit herausgerückt. Sein neuer Freund hatte es ihm gar nicht glauben wollen. «Ich dachte, ich bin jeck», sagte Herr Tigges. «Ich meine, er sieht ja nicht so aus, Sie entschuldigen schon, gnädige Frau, nicht so wie der Levi bei uns in Grevenbroich, der immer dieses Käppchen anhatte, auch im Laden, so was ist doch eine Unhöflichkeit gegenüber der Kundschaft, finden Sie nicht auch?»
Herr Tigges war jetzt endgültig zu Atem gekommen und sein Redefluss nicht mehr aufzuhalten. Der Levi, sagte er, der war ja ebenfalls ins Ausland gegangen, aber bei dem war das etwas anderes, der fehlte keinem, hatte sich nie anpassen wollen, und die Ware, die er verkaufte – man soll nicht schlecht über die Konkurrenz reden, aber was der in seinem Laden «mit kleinen Fehlern» verkaufte, damit hätte man in seinem Warenhaus gerade noch die Böden aufgewischt; selbst zu Levis Schleuderpreisen war eine solche Qualität noch überzahlt. «Aber Ihr Vater», sagte Herr Tigges, «Ihr Vater ist ein ganz anderes Kaliber, ein reeller Geschäftsmann, und so einer hat keinen Grund, aus Deutschland wegzulaufen.»
Natürlich, es hatte Übergriffe gegeben, aber doch nur am Anfang, wo gehobelt wird, fallen Späne, aber jetzt hatte sich die Sache beruhigt, man fuhr auf gradem Kiel, und von Diktatur konnte überhaupt nicht die Rede sein. Beim letzten Karneval – Herr Tigges war selber im Vorstand vom Närrische Sprötz-Trupp Gustorf – waren da aus der Bütt ein paar richtige Raketen abgeschossen worden, ganz schön harte Dinger, und der Herr Böckeler, der Ortsgruppenleiter, war im Publikum gesessen, in Uniform, und hatte gelacht und applaudiert wie alle andern. «Und geschunkelt!», sagte Herr Tigges, als ob esein stärkeres Argument gar nicht geben könne. Der Ortsgruppenleiter hatte geschunkelt. «Also, wenn Sie mich fragen, Diktatur sieht anders aus.»
«Für die Olympiade, das habe ich Ihrem Herrn Vater auch gesagt, haben sie sogar diese Fechterin in die Mannschaft aufgenommen, die blonde He, und die ist Jüdin. Da kann man doch nicht von Unterdrückung reden. Nein, habe ich ihm gesagt, da war eine Menge Propaganda mit bei, auf beiden Seiten, wenn Sie mich fragen, aber jetzt gibt es klare Regeln und Gesetze, und jeder weiß, woran er ist. Er soll sich das doch selber einmal ansehen, habe ich ihm gesagt, ich lade ihn gern nach Grevenbroich ein, wir haben da zwei ganz anständige Hotels, die haben noch nie einen zahlenden Gast abgewiesen. Von Den Haag ist man in vier Stunden in Köln, und gleich am Bahnhofsvorplatz fährt der Bus.»
Ich konnte mir ihre Gespräche vorstellen. Papa war in der Regel kein naiver Mensch. Ein Theoretiker, das schon, aber wenn es um Geschäfte ging, hatte er immer mit beiden Beinen auf dem Boden gestanden. Außer damals, als er sich mit der Kriegsanleihe beinahe ruinierte. Galoppierender Patriotismus ist kein guter Ratgeber. Er las auch genügend Zeitungen, um zu wissen, was wirklich vor sich ging – das Reichsbürgergesetz war eine klare Sache gewesen, und dass meine Filme verboten waren, auch –, aber hier wurde ihm erzählt, was er gern hören wollte. Aus lauter Sehnsucht nach seinem alten Leben war er bereit gewesen, es zu glauben.
Ich bin mir ganz sicher: Herr Tigges aus Grevenbroich hat ihn nicht angelogen. Nicht bewusst. Er war nur ein guter Wegschauer, wie so viele andere auch.
Was er uns zu erzählen hatte, war ihm ein bisschen peinlich, und deshalb wischte er sich erst noch einmal umständlich die Stirn ab, bevor er sagte: «Naja, und dann hat er eben seinen Entschluss gefasst.»
Mama war sonst immer beherrscht, erst recht, wenn Gäste da waren, aber jetzt kippte ihre Stimme vor Aufregung über, so dass es schon fast ein Kreischen war. «Was für einen Entschluss?»
«Nach Berlin zu fahren. ‹Ich will es mir selber ansehen›, hat er gesagt. ‹Sie werden mir schon nicht den Kopf abreißen.›»
Er hatte sich von Herrn Tigges Geld geliehen.
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