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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Wohnungstür klingelte. Ein schwerer Mann, dem das Atmen Mühe bereitete. Die drei Treppen bis zu unserer Wohnung ließen ihn nach Luft japsen. Es war kein heißer Tag, aber er schwitzte, als ob er den ganzen Weg gerannt wäre. «Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte», war alles, was er hervorbrachte.
    Mama bestand darauf, dass wir uns in den Salon setzten. Den wir gar nicht hatten. Sie machte sich jeden Tag die Mühe, das Bett in ihrem Schlafzimmer in ein Sofa zurückzuverwandeln. Salon musste sein.
    Der Mann, so um die sechzig oder vielleicht ein bisschen mehr,brauchte ein ganzes Weilchen, um wieder zu Atem zu kommen. Jedes Mal, wenn er sich die Stirn abwischte, und das tat er oft, holte er das Tuch aus einer anderen Tasche. Er schien ein ganzes Sortiment davon eingesteckt zu haben.
    Als er dann wieder reden konnte, stellte er sich vor. Tigges. Wolf-Dietrich Tigges aus Grevenbroich. Zur Zeit Gast im Kurhaus. Entschuldigte sich, dass er uns hier einfach so überfalle, das sei sonst nicht seine Art, aber wenn einem etwas Sorgen mache, dann bleibe keine andere Wahl, was muss, das muss. Er hatte diese ausufernde rheinische Sprechweise, die einem immer das Gefühl gibt, dass da jemand seine ganze Lebensgeschichte erzählen will. «Der Portier im Kurhaus hat mir die Adresse gegeben. Ich sage immer: Man muss mit den Leuten reden. Wer nichts fragt, der nichts gewinnt. Er wusste es auch gleich. Musste nicht mal nachschlagen. Sie sind ein berühmter Mann. Ich freue mich sehr, dass ich Sie jetzt auch einmal persönlich kennenlerne. Wo ich doch schon so viel über Sie gehört habe. Ihr Herr Vater redet dauernd von Ihnen.»
    «Sie kennen ihn?»
    «Darum bin ich doch hier», sagte Herr Tigges.
    Von geschwätzigen Leuten erfährt man oft weniger als von schweigsamen, und wenn er nicht gerade nach Luft schnappte, war Herr Tigges äußerst geschwätzig. Es dauerte eine ganze Weile, bis er uns endlich den Grund seines Besuchs erklärte.
    Papa hatte sich nicht umgebracht.
    «Wir zwei haben uns angefreundet», sagte Herr Tigges. «Sind am Strand ganz zufällig ins Gespräch gekommen. So eine Kur ist ja etwas schrecklich Langweiliges, nicht wahr? Aber was will man machen, wenn der Onkel Doktor darauf besteht? ‹Seeluft›, hat er gesagt, ‹Seeluft wird Ihren Bronchien guttun.› Es sind gar nicht die Bronchien, wenn Sie mich fragen. Es ist das verdammte Kölsch. Das Zeug schmeckt einfach zu gut, man denkt, es schadet einem nichts, weil man davon nicht besoffen wird. Ein durchlaufender Posten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber man wird dick davon. ‹Strenge Enthaltsamkeit›, das predigt mir der Doktor seit Jahren, aber der hat gut reden. Wenn ich nicht in die Kneipe gehe,weiß ich nicht, was meine Kunden denken. Und dann kann ich zumachen.»
    Herr Tigges besaß ein Warenhaus – «nicht gerade Wertheim, Sie verstehen, aber für Grevenbroich nicht schlecht» –, und mit Papa hatte er sich über Mode unterhalten. «Nicht die ganz große Mode, das ist was für Köln oder Berlin, sondern das, was die Leute kaufen. Schick, aber nicht teuer. Ich sag immer: ‹Das Preisschild kann man ja abmachen.›» Er hatte ein Friseur- oder Kellnerlachen, für die Kundschaft bestimmt und ohne wirkliche Heiterkeit.
    «Und mein Vater …?», versuchte ich ihn wieder aufs Gleis zurückzubringen.
    «Der kennt sich aus. Staunenswert, wirklich staunenswert. Ein absoluter Fachmann, was die Konfektion anbelangt. Hat mir ein paar Einkaufsquellen genannt – ich habe meinen Herren gleich ein Telegramm geschickt, sie sollen sich da mal drum kümmern. Ist immer gut, wenn die merken: Der Alte ist zwar nicht im Büro, aber trotzdem am Ball.»
    Sie hatten miteinander gefachsimpelt, über Lieferanten und Kunden, über die Firma des einen und das Warenhaus des andern. Es muss für Papa fast so gewesen sein wie an der Leipziger Straße. In den Gesprächen im Strandrestaurant hatte er wieder einmal Konfektionär sein dürfen.
    Bis sie dann auf ein anderes Thema kamen.
    «Einen Mann, so voll im Schuss wie Ihr Vater – so einen trifft man nicht alle Tage. Er ist ein paar Jährchen älter als ich, haben wir festgestellt, aber immer noch jung, wenn Sie verstehen, was ich meine. Innerlich. Darum konnte ich auch gar nicht begreifen, dass er sich schon zur Ruhe gesetzt hat. Ich meine: Scheveningen ist schön und gut, aber ein Mann – entschuldigen Sie, gnädige Frau, ich will die Damen nicht ausschließen, aber für Sie ist es doch etwas anderes, nicht wahr –,

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