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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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seinem Ensemble Arbeit für mich. Später ist er dann spurlos verschwunden, untergetaucht wahrscheinlich, aber damals schrieb er immer noch eine Revue nach der andern. Heiterkeit im Akkord. Je beschissener unsere Situation, desto fröhlicherseine Lieder. Schade, dass die Welt nicht so war, wie wir sie in unseren Pappkulissen dargestellt haben.
    Wir saßen schon im Gefängnis und hatten es bloß noch nicht gemerkt. Weil wir vorläufig die Sonne noch sehen konnten. Die Mauern um uns herum wurden erst gebaut. Immer noch ein Stein. Noch ein Gesetz. Noch ein Verbot. Am Anfang lauter Dinge, die für uns nicht wirklich etwas veränderten. Kein rituelles Schlachten mehr? Ich hatte das nie gebraucht. Angeln für Juden verboten? Lächerlich. Keine Juden im öffentlichen Dienst? Wir waren Ausländer, uns betraf das nicht.
    Erst mal nur Schikanen. Die großen Gemeinheiten sparten sie sich für später auf.
    Das erste, was mich persönlich traf, war das Kinoverbot. Ich habe danach nur noch einen einzigen Film gesehen. Heimlich. Die holländischen Kinos waren verpflichtet, Der ewige Jude zu zeigen, und ich hatte gehört, dass ich in dem Propagandastreifen auch vorkam. Da musste ich hin. Aus purer Schauspielereitelkeit.
    Ins Kino hineinzukommen war nicht schwierig. Der Judski ist einem ja nicht ins Gesicht geschrieben. Und den gelben Stern, diesen Orden pour le sémite , hatten sie damals noch nicht erfunden. Ich musste mich nicht mit hochgeschlagenem Mantelkragen in den Zuschauerraum schleichen. Habe mir an der Kasse eine Karte gekauft und mir in aller Ruhe einen Platz ausgesucht. Der Saal fast leer. Die Premiere war natürlich voll gewesen. Die Parteigenossen von der NSB hatten pflichtgemäß gejubelt. Aber außer ihnen wollte kaum jemand das Machwerk sehen.
    Kein gut gemachter Film. Alles zu dick aufgetragen. Total göring. Das war damals unser Adjektiv für alles, was diesen falschen Nazi-Schmetterton hatte. Zu laut. Zu fett. Zu bunt. Aber die Leute sind ihnen darauf reingefallen. Die Nazis, das habe ich oft gedacht, kamen auch an die Macht, weil sie sich auf den schlechten Geschmack des Publikums verlassen konnten.
    Der Ewige Jude soll beweisen, dass Judskis immer nur daran denken, wie sie die hehren Mauern der germanischen Kultur unterwühlen und zum Einsturz bringen können. Die arische Kunst besudeln.Über mich sagten sie: «Er erzielt seine Wirkungen am liebsten mit der Darstellung des Anrüchigen und Unappetitlichen.» Die haben es nötig, diese Gralsritter! Geben ein pornographisches Schmuddelblatt wie den Stürmer heraus, aber ich bin ihnen nicht feinsinnig genug. Sie hatten eine Szene aus Flucht vor der Liebe herausgesucht, wo ich verschwitzt und im Unterhemd etwas koche. Zugegeben, keine meiner größten schauspielerischen Leistungen. In der Rolle wurde aber auch nicht mehr von mir erwartet. Ich musste nur aussehen, wie ein Schaubudenbesitzer im Stummfilm eben auszusehen hatte.
    Der Mensch ist kein vernünftiges Wesen. Der Schauspieler schon gar nicht. Ich saß in dem leeren Kino, das weiß ich noch, und ärgerte mich tatsächlich darüber, dass der Bois und der Kortner und der Lorre längere Ausschnitte hatten als ich. Wir wurden da als Beispiele für übles jüdisches Schmierantentum vorgeführt, und ich neidete ihnen die Sekunden, die sie mehr hatten als ich. Ein Idiotenreflex, aber er war da.
    Wie in dem Witz, den der Max Ehrlich in Westerbork erzählt hat. Nicht auf der Bühne. Er wusste sehr genau, wo die Kante war, über die er nicht hinausdurfte. Ein Schauspieler besucht seinen schwer verletzten jüdischen Kollegen im Krankenhaus. «Ich habe gesehen, wie die SA dich zusammengeschlagen hat», sagt er. «Und?», fragt der Mann im Gips. «Wie war ich?»
     
    Ich bin so ein Schauspieler. Immer schon gewesen. Nicht nur von Beruf, sondern auch von Charakter. Habe das Leben von Anfang an als Theaterstück betrachtet. Wo man zwar seine Rolle hat, im Textbuch festgelegt, aber was man daraus macht, wie man sie interpretiert, das bleibt einem selbst überlassen. Ob man sie mit vollem Einsatz spielt oder vornehm distanziert. Stanislawski oder neue Sachlichkeit.
    Das mag eine völlig falsche Optik sein. Mir hat sie immer geholfen. Wer die Welt als Bühne sieht, weiß, dass ihm nichts passieren kann. Nicht wirklich. Das Messer, mit dem einer auf dich losgeht,ist ein Bühnenmesser. Wenn er es dir in die Brust rammt, verschwindet die Klinge im Griff. Das Gewehr, mit dem man auf dich schießt, ist nicht geladen. Hinter der

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