Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Urkunde von meinem medizinischen Staatsexamen mitgebracht. Dieses wertlose, aber imposant lateinisch verschnörkelte Dokument. Alma Mater Berolinensis. Facultas Medicinae . Auf den ersten Blick konnte man es für ein Doktordiplom halten.
Bei unserer Abreise aus Berlin hat Olga alle möglichen Papiere eingepackt. Die Geburtsurkunden. Meinen Mitgliederausweis von der Bühnengenossenschaft. Ihr Sparbuch. Von dem das Geld dann gestohlen wurde.
Ich habe die Urkunde nicht gebraucht. Dr. Strassburger glaubte mir auch so. Damals in Paris waren Flüchtlinge aus Deutschland das Normalste vom Normalen. Und den medizinischen Jargon hatte ich ja drauf. Ich würde hier ab und zu Leidensgenossen behandeln, erklärte ich ihm. Leute, die sich keinen Arzt mehr leisten konnten. Kostenlos selbstverständlich. Ich wollte den französischen Kollegen ja keine Konkurrenz machen. Und auch das nur, bis mein Visum für Amerika endlich bewilligt würde. Das Affidavit hätte ich schon.
Dr. Strassburger wünschte mir Glück. Es tut mir heute noch leid, dass ich ihn so rabenschwarz anlügen musste.
Ich hätte da einen Patienten, erzählte ich ihm, der es nicht mehr lange machen würde. Carcinoma bronchialis. Incurabilis. Schilderte ihm detailliert die Symptome. Mein Großvater, so wie der amEnde seines Lebens gewesen war. Ich bin sicher, Großpapa hätte es mir verziehen. Hätte sogar Spaß daran gehabt. Er liebte Geschichten. Dem Mann sei nicht mehr zu helfen, sagte ich. Man könne nur noch versuchen, seine Schmerzen zu lindern. Morphium in hohen Dosen. Aber eben, ich hätte für Frankreich keine Approbation und dürfe deshalb keine Rezepte ausstellen.
Ich musste die Bitte nicht mal aussprechen. Dr. Strassburger machte selber das Angebot. Hatte seinen Rezeptblock schon in der Hand. Wie denn der Patient heiße, fragte er. Ich sagte: «Hans Beckert.» Ohne mir dabei etwas zu denken. Erst hinterher fiel mir ein, dass das der Name von Lorres Rolle war. Der Kindermörder.
Ein bisschen habe ich dann tatsächlich als Arzt funktioniert. Als Krankenbehandler. Habe aufgepasst, dass der Lorre sich keine Überdosis spritzte. Nach ein paar Tagen ging es ihm schon besser. Man sah ihm nichts mehr an. Dem Harry Cohn, der ihn nach Amerika holen wollte, konnte er überzeugend vormachen, er sei von den Drogen runter. Wenn man so will, hat er mir seine Karriere in Hollywood zu verdanken.
Darum hat er sich für mich eingesetzt. Hat mir dieses Angebot verschafft. Ein Zweijahresvertrag als Regisseur bei der Columbia. Mit dem in der Hand wären die Visa nur noch Formsache gewesen. Sogar die Schiffspassage wollten sie bezahlen. Für alle vier. Zwei Kabinen dritter Klasse.
Ich war ein Idiot. Ein Blödmann. Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen.
Ein bisschen war auch der Lorre dran schuld. Unabsichtlich. Weil er mir in seinem Brief die ersten Monate in Hollywood so genau schilderte. Er hatte zwar seinen Vertrag bei der Columbia, aber sie boten ihm nur Rollen in unwichtigen Streifen an. B-Filme, wie sie das dort drüben nennen. Amortisier-Produktionen, die nur gedreht werden, weil irgendwo noch eine Dekoration herumsteht. Weil ein paar Schauspieler unterbeschäftigt sind, und man sie so oder so bezahlen muss. Der Lorre hat sich geweigert. «Gute Rollen oder gar nichts»,hat er gesagt. Auf die Gefahr hin, dass sie ihn rausschmeißen. In Amerika musst du dich wie ein Star benehmen, hat er mir geschrieben. Sonst glauben sie nicht, dass du einer bist. Ernst genommen wirst du nur, wenn du Ansprüche stellst.
Ich war so ein Idiot. Es ging um mein Leben, und ich wollte gelbe Rosen in der Garderobe.
Im Prinzip könne ich mich mit ihrem Angebot durchaus anfreunden, schrieb ich an die Columbia. Aber sie würden doch nicht im Ernst erwarten, dass ich, ein etablierter Künstler, dritter Klasse über den Ozean gondle. Ich sei anderes gewohnt und müsse darauf bestehen, so behandelt zu werden, wie das einem Mann mit meinen Erfolgen zukomme. Gezeichnet: Kurt Gerron.
Der Blödmann.
Olga wollte nur weg, von ihr aus auch in einer Hängematte im Zwischendeck. Aber ich blieb stur. «Das erste Angebot darf man nie annehmen», habe ich doziert. «Sonst machen sie nachher mit einem, was sie wollen.» Wollte ganz besonders schlau sein.
Als ich ein kleiner Junge war, hat mir Mama einmal aus erzieherischen Gründen ein Bilderbuch geschenkt. Die Geschichte vom Häschen Neunmalklug . Ein kleiner Hase, der sich für furchtbar gescheit hält und sich von niemandem etwas sagen
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