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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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lässt. Auch nicht, als ihn seine Mutter vor dem Jäger warnt. Als die Jagdhörner erklingen, laufen alle andern Tiere weg und verstecken sich. Nur Häschen Neunmalklug bleibt sitzen und knabbert weiter an seiner Mohrrübe. Der letzte Vers des Buches hieß: Und die Flinte machte bumm – Neunmalklug ist Immerdumm.
    Bumm.
    Der Krieg war schon ausgebrochen, und ich habe immer noch verhandelt. Es war ja kein richtiger Krieg, schien mir. Zumindest nicht im Westen. Und überhaupt: Holland war neutral. Kurt Gerron, der große Politikfachmann. Der dicke Hase Neunmalklug. Ich glaubte tatsächlich, die Weltgeschichte würde sich nach meinen Regieanweisungen richten.
    Und wie stolz ich dann war, als die Columbia nachgab! Zwei Kabinen erster Klasse. Auf der Veendam. Holland-Amerika Lijn.Rotterdam-Southhampton-New York. Plus private Schlafwagenabteile für die Zugfahrt nach Los Angeles. «Siehst du», habe ich zu Olga gesagt. «Es hat sich gelohnt. Wenn wir aus dem Zug steigen, werden sie uns den roten Teppich auslegen.»
    Einen Bombenteppich hat man mir ausgelegt.
    Wir haben unsere Sachen gepackt und unsere Wohnung aufgelöst. Uns von den Kollegen verabschiedet. Von den Freunden. Mit dem de Jong noch einmal eine Zigarre geraucht. Mit Otto Wallburg Wein getrunken. Wir waren sicher, dass wir sie lang nicht wiedersehen würden. Vielleicht nie wieder.
    «Ja, mach nur einen Plan», haben wir in der Dreigroschenoper gesungen. Und ich war das große Licht.
    Die Einschiffung in Rotterdam war für den 18. Mai vorgesehen. Eine Woche nach meinem Geburtstag. Ich mag das Datum nicht. 1915 hat mich einen Tag vorher der Granatsplitter erwischt. Und exakt fünfundzwanzig Jahre später der deutsche Angriff auf Holland.
    Es gab keine Abfahrten nach Amerika mehr. Es gab Rotterdam nicht mehr. Die Veendam, das habe ich später in der Zeitung gelesen, wurde im Hafen von einer Bombe getroffen.
    Die Falle war zugeschnappt. Häschen Neunmalklug saß fest.
    Bumm.
    Ich bin Soldat gewesen. Habe Sturmangriffe mitgemacht. Das Eiserne Kreuz bekommen. Ich dachte, ich wüsste, was Krieg bedeutet. Aber diesmal war alles anders. Ein Krieg im Zeitraffer. An einem Tag noch drôle de guerre und am nächsten schon deutsche Siegesparaden. Ganz Europa voller Knobelbecher und Hakenkreuzfahnen. Als absurde Pointe ein Glückwunschtelegramm von Kaiser Wilhelm an Adolf Hitler. Die Schicksalserfinder da oben auf ihrer Wolke müssen besoffen gewesen sein.
    Wenn ich nicht so klug gewesen wäre, wenn ich nicht so idiotisch klug hätte sein wollen, würde ich heute in Amerika sitzen. Im Liegestuhl Orangen essen. Würde fröhliche Hollywood-Komödien inszenieren, statt für Rahm Theresienstadt zu verfilmen. Aber ich wollte ja nicht dritter Klasse reisen. Der Herr Gerron wollte umsVerrecken seinen roten Teppich haben. Nur wer sich wie ein Star benimmt, wird auch wie ein Star behandelt. Ich habe es geschafft. In Theresienstadt bin ich ein Star. Ein A-Prominenter. Mit eigenem Zimmer im Bordell. Direkt neben der Latrine. Mit einem Büro und einer Sekretärin.
    Sie fragt mich, warum ich in Holland geblieben bin. Und ich antworte: «Es hat sich so ergeben.»
     
    Es hat sich so ergeben, dass sich unser Vermieter umbrachte. Wir waren, weil unsere Wohnung ja schon aufgelöst war, für ein paar Nächte in einer Pension in Amsterdam abgestiegen. Von dort aus wollten wir direkt nach Rotterdam weiterreisen. Die Pension gehörte einem deutschen Emigranten; seinen Namen habe ich vergessen. Ich weiß nur noch, dass er vor der Machtübernahme ein Hotel in Wiesbaden besessen hatte und es zu einem lächerlichen Preis hatte verkaufen müssen. Nach der holländischen Kapitulation nahm er Veronal. Papa hat ihn gefunden. Er wollte sich bei ihm beschweren, weil das Frühstück nicht rechtzeitig auf dem Tisch stand, und entdeckte die Leiche. Der Mann hatte sich für seinen Selbstmord einen altmodischen Gehrock angezogen. Das war wohl seine Hoteldirektorenkluft gewesen. Es war der erste Suizid in meiner Umgebung, und die Geschichte nahm mich mit. Obwohl ich den Mann nicht näher gekannt hatte. Später hat man sich an solche Vorkommnisse gewöhnt.
    Es hat sich auch ergeben, dass wir in Amsterdam geblieben sind. Im selben Haus, wo auch der Wallburg und der Nelson wohnten. Dort waren zwei Zimmer frei, und so zogen wir an die Frans van Mierisstraat. Vorübergehend, dachten wir. Nur bis es wieder möglich sein würde, nach Amerika zu reisen. Am Anfang machte man sich noch Hoffnungen.
    Der Nelson hatte in

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