Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Kulisse feuert nur der Requisiteur eine Platzpatrone ab.
Und das Schönste am Theater: Wenn der Vorhang fällt, stehen die Toten wieder auf. Gehen unter die Dusche, um sich das Bühnenblut abzuwaschen. Ihre Mörder reiben sich die Dämonie mit Abschminke aus dem Gesicht und erzählen Witze. Dann gehen sie gemeinsam zu Aenne Maenz oder zu Schwanneke und besprechen, was Schauspieler endlos besprechen können: Wie sie gewesen sind und was sie in der nächsten Vorstellung noch besser machen wollen.
Natürlich, die Wirklichkeit ist anders. Ich habe das immer gewusst. Aber für mich fühlte es sich so an. Als ob man alles Geschehene auch widerrufen könnte. Als ob ich von lauter Kalles umgeben wäre und könnte jederzeit sagen: «Lass uns die Szene noch einmal neu anfangen. Jetzt weiß ich, wie man sie gestalten muss.»
Ich habe im wirklichen Leben immer nur ein Gastspiel gegeben.
Wenn mir doch einmal etwas Schlimmes passierte, und das war ja, weiß Gott, oft genug, dann konnte ich mir jedes Mal einreden, es sei nur ein Zwischenfall. Etwas, das eigentlich nicht sein durfte. Im Textbuch nicht vorgesehen. Jemand hatte die Kulisse nicht richtig festgeschraubt oder am Zug das falsche Gegengewicht montiert. Wir bitten für die kleine Panne um Verzeihung.
Ich habe dann immer versucht, den Fehler zu kaschieren. Die Situation wegzuspielen. Wie man das als Schauspieler eben macht. Die Vorstellung muss weitergehen. Der Zuschauer darf nichts merken. Aus dem Gruselfilm des Krieges bin ich auf Urlaub gefahren und habe ihn meinen Eltern als Militärklamotte vorgespielt. Nach meinem Granatsplitter habe ich den großen Liebhaber gegeben. Habe es jedes Mal wieder geschafft, mich selber zu überzeugen.
Eben doch Stanislawski.
Ganz tief in mir drin ist immer die Vorstellung: Ich bin Solist, und alle anderen sind Statisterie. Ich bin das Einzelstück, von Hand geschnitzt, und alle anderen kommen vom Fließband. Was natürlich Unsinn ist, ich weiß das, und trotzdem … Wenn ich das nichtdenken könnte, wenn mein Kopf anders konstruiert wäre, dann könnte ich den beschissenen Part gar nicht aushalten, den mir mein Himmelsdramaturg ins Drehbuch geschrieben hat. Dann hätte ich meine Rolle schon lang hingeschmissen. Aber ich habe sie ausgehalten, und ich werde sie weiter aushalten. Egal, was noch kommt. Weil ich weiß, weil ich fest davon überzeugt bin, weil ich mir einrede: Die ganz üblen Dinge passieren immer nur den andern. Nicht mir. Ich bin jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Fast fünfzig Jahre habe ich im miesesten Jahrhundert gelebt, das es je gegeben haben kann, und bin an der ganz großen Katastrophe immer vorbeigeschliddert. Im Krieg wurde ich verschüttet, ja, aber ich habe überlebt. Nicht einmal einen Kratzer hatte ich. Der Granatsplitter hat mich getroffen, ja, aber links und rechts von mir waren sie tot. Mir sieht man nicht einmal etwas an. Auch in der schwärzesten Zeit hatte ich immer diese Sonderrolle. Immer ging es mir ein bisschen besser als den andern. Als die Deportationen begannen, hatte ich meinen Ausweis vom Judenrat. Ist bis auf weiteres vom Arbeitseinsatz freigestellt. Sogar in der Schouwburg hatte ich einen Druckposten. Mit einem Titel, den sie eigens für mich erfunden haben. Leider Bagagedienst. Ich habe noch Witze darüber gemacht, indem ich das Leider deutsch gelesen habe und nicht holländisch. Um Westerbork bin ich nicht herumgekommen. Aber auch dort war ich nicht einfach einer von vielen. Gemmeker hat mich gekannt. Hat mich gebraucht. Mit dem Mackie-Messer-Song kriegt man immer einen Soloauftritt. Und jetzt in Theresienstadt bin ich A-Prominenter. Die andern wohnen in Massenquartieren. Ich habe ein Kumbal. Einen Sonderauftrag von Rahm. Ich kann Leute von der Transportliste streichen lassen. Ich kann Leben retten.
Man kann das Glück im Unglück nennen, aber ich sehe es anders. Will es anders sehen. Der Hauptdarsteller stirbt nicht vor dem letzten Akt. Der Krieg wird zu Ende gehen, die Nazis wird man verjagen, und ich werde immer noch da sein. Man wird den Hitler vor Gericht stellen, und ich werde mit Olga auf dem Sofa sitzen und in der Zeitung den Bericht über seinen Prozess lesen. Bei Kaffee und Kuchen.
Es wird nicht so sein. Natürlich nicht. Aber es tut mir gut, es mir auszudenken. Es ist schon so lang her, dass ich wirklich Hoffnung hatte.
1941 war das. In Amsterdam. An der Frans van Mierisstraat. Als plötzlich die Tür aufging und Otto Burschatz hereinkam. Unangemeldet und ohne
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