Gerron - Lewinsky, C: Gerron
automatisch. Wie ich es immer tat, wenn mich auf der Straße jemand erkannt hatte und zu schüchtern war, um mich anzusprechen. Nickte und lächelte ihn an. Er kann zu mir rüber und schlug zu. Ich weiß, wie es sich anfühlt.
Früher oder später kamen alle in die Schouwburg. Der Wallburg.Der Ehrlich. Der Rosen. Camilla. Wurden alle nach Westerbork geschickt. Wo sie dann länger bleiben durften als andere. Weil der Gemmeker gern ins Kabarett ging.
So viele Kollegen.
Und meine Eltern.
Als ich, zwei Tage, bevor es so weit war, erfuhr, dass sie auch aufgerufen werden würden, habe ich versucht, sie vorzubereiten. Papa wollte mir meine beruhigenden Lügen nicht glauben. Er war dreiundsiebzig Jahre alt, und von seiner alten Persönlichkeit war ihm nichts geblieben als ein besserwisserischer Pessimismus. Den wollte er sich nicht auch noch nehmen lassen. «Sie werden uns umbringen», sagte er. «Du wirst schon sehen.» Ob es wohl ein Trost für ihn war, dass er noch ein letztes Mal recht behalten hat?
Mama, wie es ihre Art war, weigerte sich, zur Kenntnis zu nehmen, was mit ihr passierte. Hielt sich an Äußerlichkeiten fest. Wischte ihren Klappstuhl vorwurfsvoll mit dem Taschentuch ab, bevor sie sich setzte. «Man stützt nicht die Ellbogen auf den Tisch», sagte sie zu mir. Als ich sie küssen wollte, stieß sie mich weg.
Papa ließ sich umarmen. Mit einem Gesicht, als ob auch das etwas wäre, das er zu erdulden hatte.
Meine Eltern blieben nicht lang in der Schouwburg. Am Vormittag waren sie gekommen, und am selben Abend brachte man sie schon nach Westerbork. Ich durfte sie nicht bis zur Straßenbahn begleiten. Während der Transporte war das Foyer auch für den Judenrat gesperrt.
«Vergiss mich nicht», war das letzte, was Mama zu mir sagte. Sie hätte dasselbe gesagt, wenn sie nur für eine Woche in die Sommerfrische gefahren wäre. Ihr Leben bestand aus Plattitüden.
Erst in Westerbork habe ich erfahren, dass man sie nach Sobibor geschickt hat. Von dort ist niemand zurückgekommen.
In den ersten Wochen, als sie noch die Illusion verbreiteten, es ginge um einen Arbeitseinsatz, holten sie vor allem junge Leute in die Schouwburg. Einzelpersonen. Aber schon bald machten sie sich nicht mehr die Mühe, den Vorwand aufrechtzuerhalten. Wer den Knüppel hat, braucht die Mohrrübe nicht. Jetzt holten sie auch alte Leute. Ganze Familien.
Kinder.
Ich habe mich oft gefragt, warum die SS-Leute dieses Wort so vermieden. Als ob sie Angst davor hätten. Sie sprachen immer nur von Brut. «Eure Brut kriegt gleich ein paar hinter die Löffel» oder «Eure Brut soll aufhören, Krach zu machen.»
Es war der Lärm, der sie störte. Ans Befehlen gewöhnt, wollten sie nicht einsehen, dass man Kinder nicht einfach zur Ruhe kommandieren kann, wenn sie kreischend Fangen spielen oder sich lauthals über eine Ungerechtigkeit beklagen. Sie schrien sie an und bewirkten damit natürlich das Gegenteil. Vor allem die ganz Kleinen waren oft überhaupt nicht mehr zu beruhigen.
Und so wurde eine neue Regel eingeführt. Gleich gegenüber der Schouwburg, auf der andern Seite der Plantage Middenlaan, gab es eine jüdische Kinderkrippe. Eine Crèche , wie man in Holland sagt. Dort sollten in Zukunft alle Kinder getrennt von den Eltern betreut werden. Wobei Betreuung das falsche Wort war. Zumindest, was die SS anging. Aufbewahrt sollten sie werden. Weggepackt wie meine Koffer, die man ja auch erst wieder brauchte, wenn ihre Besitzer nach Westerbork weitergeschickt wurden. «Kümmert euch drum!», sagte die SS, und der Judenrat kümmerte sich.
Die Eltern wehrten sich oft heftig, wenn man ihnen die Kinder wegnahm. Man würde gut für sie sorgen? Was von deutschen Versprechungen zu halten war, hatte man zur Genüge erfahren. Immer wieder musste man jemandem die Tochter oder den Sohn aus den Armen reißen. Aber Erwachsene sind leichter zur Ruhe zu bringen als Kinder. Man droht ihnen mit Gewalt, und wenn das nicht hilft, schlägt man zu.
Die Eltern blieben also in der Schouwburg, und die Kinder kamen in die Crèche. Manchmal nur zwei Tage lang, manchmal ein paarWochen. Bis sie zum Transport nach Westerbork aufgerufen wurden. Dann brachte man sie wieder über die Straße zurück, eine knappe Stunde, bevor die nächtliche Straßenbahn fuhr. Damit auch diese Familie vollständig und korrekt in Westerbork abgeliefert werden konnte. Ordnung muss sein.
Das Erlebnis mit dem kleinen Louis begann damit, dass mich im Zuschauerraum wieder einmal jemand
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