Gerron - Lewinsky, C: Gerron
seine Leute vorwurfsvoll an und legt den Finger an die Lippen. Macht so eine Tut-mir-leid-Geste zu mir hin. Sie gehen auf Zehenspitzen weiter. Verschwinden aus meinem Blickfeld. Im Zuschauerraum hat niemand etwas gemerkt. Ich spreche ganz automatisch meinen nächsten Satz. «Ach, du bist Nichtraucher?», sage ich zu der Puppe, die den Säugling spielt. Das Publikum lacht. Die Vorstellung geht weiter. Als ob nichts wäre.
Es war aus der Fünten, der Mann von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Auch so ein Nazi-Verkleidungswort. Zentralstelle für Deportationen wäre ehrlicher gewesen. Damals war er noch nicht die Schreckensfigur, die er später geworden ist. Als er die Männer aus Mischehen zur Kastration erpresste. War für uns einfach ein SS-Mann unter SS-Männern. Der eine Vorstellung nicht hatte stören wollen. Was ein echter Deutscher ist, ehrt die Kultur. Er wartete sogar den Schlussapplaus ab. Erst dann erklärte er das Theater für geschlossen.
Die Schouwburg, sagte er, würde ab sofort als Sammelstelle dienen. Für all die Juden, die sich freiwillig zum Arbeitseinsatz inDeutschland gemeldet hätten. Drei Lügen in einem Satz. Kein Wunder, hatte er es bis zum Hauptsturmführer gebracht. Es gab keine Freiwilligkeit, sondern nur Zwang. Es ging nicht zum Arbeitseinsatz, sondern ins Lager. Man fuhr nicht nach Deutschland, sondern nach Westerbork. Und von dort weiter nach Osten. Wenn man Glück hatte, nur bis Theresienstadt.
Für mich selber bedeutete die Schließung, dass ich von einem Tag auf den andern ein Schauspieler ohne Auftritte war. Ein Regisseur ohne Inszenierungen. Irgendjemand setzte dann durch, dass wir Theaterleute alle in der Schouwburg weiter beschäftigt wurden. Als Angestellte des Judenrats. Mich machte man zum Leider Bagagedienst. Zuerst war das nur ein Vorwand, um mir jede Woche ein paar Gulden zukommen zu lassen. Später, als man immer mehr Menschen im Theater zusammenpferchte, wurde es eine wichtige Aufgabe.
Die Leute wurden im Foyer registriert. An langen Tischen, wo Mitarbeiter des Joodsche Raad die Personalien aufnahmen, die Papiere kontrollierten und die Haus- und Wohnungsschlüssel einsammelten. Sie wollen deiner Wohnung auf den Puls fühlen , hieß der böse Spruch. Weil es immer die Spedition Puls war, die die Möbel abholte und nach Deutschland verfrachtete. Am Anfang wurden die Leute noch am selben Tag zum Bahnhof gebracht. Mit der Straßenbahn. Das machte es harmlos. Man kann sich eine Hölle nicht vorstellen, wo man mit der Straßenbahn hinfährt. Und doch war es genau das, was sie da einrichteten. Eine Hölle. Die Feuer waren nur noch nicht gleich auf volle Temperatur gebracht.
Mit der Zeit kamen dann immer mehr Leute. Wurden immer mehr Leute hergeschleppt. Wer sich hatte vorbereiten können, brachte sein Gepäck mit. Soviel er hatte tragen können, oder soviel man ihm erlaubt hatte. Sie mussten jetzt manchmal tage- oder wochenlang warten, bis über ihr Schicksal entschieden war. In dieser Zeit stapelten wir ihre Sachen auf der Bühne. Der einzige Ort, wo dafür Platz war. Bauten aus Bühnenpodesten Regale und versuchten einigermaßen Ordnung zu halten. Jeder Koffer mit dem Namen seines Besitzers beschriftet. Das machte anfänglich der Jo Spier. Einerder besten Zeichner Hollands war mein Assistent. Vornehm geht die Welt zugrunde.
Einmal stieß ich beim Sortieren der Gepäckstücke auf einen Koffer, der mir bekannt vorkam. Vollgepappt mit Hotelklebern aus ganz Europa. Aber ohne den Namen des Besitzers. Ich öffnete ihn und fand darin die ganzen Requisiten aus Wiegenlied. Auch die lebensgroße Puppe, die den Säugling gespielt hatte. Jetzt erkannte ich den Koffer wieder. Im dritten Akt hatte ich ihn in der Hand gehabt. Dort, wo ich abreisen will und es dann doch nicht schaffe. Ich habe ihn sorgfältig zwischen die andern zurückgestellt. Beim Buchstaben G. G wie Gerron. Als Talisman. Als Glücksbringer.
Dem kleinen Louis hat er dann tatsächlich Glück gebracht.
Hoffe ich.
Wenn die Lager die Hölle sind – was war dann die Schouwburg? Die Vorhölle? Das Trainingscamp? Die Probebühne? Und was war ich, wenn ich dort arbeitete? Ein Hilfsteufel? Ein diensteifriger Korbinian? Oder einfach wieder mal ein Schauspieler, der versuchte, aus einer beschissenen Rolle das Beste zu machen?
Es wurde alles so schrecklich alltäglich. So furchterregend selbstverständlich. Jeden Morgen, pünktlich um zehn, ging ich ins Theater. So wie ich all die Jahre zur Probe gegangen
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