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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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eingetreten ist, und sagte: «Ich will das Kind nicht haben. Sie sollen es verschwinden lassen.»
    Sie hatte sich alles genau überlegt. Davon überzeugt, dass man aus den Lagern nicht lebend herauskommen würde, sah sie für sich keine Möglichkeit zur Rettung. Aber ihr Sohn, das hatte sie beschlossen, sollte einen anderen Weg gehen. «Man muss ihn aus der Crèche hinausschmuggeln», sagte sie. «Eine Familie finden, die ihn aufnimmt. Ich weiß, dass das möglich ist.»
    Es war tatsächlich möglich. In seltenen Fällen. Am Tag war die Plantage Middenlaan eine gewöhnliche Straße, mit Fußgängern und Fahrrädern und Autos. Jedes Mal, wenn eine Straßenbahn vor derSchouwburg anhielt, war den Wachen dort der Blick auf die andere Seite versperrt. Sie konnten nicht sehen, ob ein scheinbar zufälliger Passant ein Kind an der Hand wegführte oder auf dem Arm wegtrug. Es existierte eine Organisation, hauptsächlich von Studenten, die versuchte, so viele Kinder wie möglich vor der Deportation zu retten. Aber das war alles streng geheim. Wie hatte Frau Hijmans davon erfahren?
    Sie beantwortete meine Frage, bevor ich sie stellen konnte. «Ich habe Augen», sagte sie. «Ich habe Ohren. Und ich war lang genug hier eingesperrt, um mir ein Bild zusammenzusetzen. Gestern habe ich Herrn Süsskind gefragt, und er hat es nicht abgestritten.»
    Alles sehr sachlich. So wie es Olga auch gemacht haben würde. Aber etwas hatte sie übersehen.
    «Hat Ihnen Süsskind nicht gesagt …?»
    «Was?»
    «Dass das nur möglich ist, wenn die Kinder nicht auf der Liste stehen?»
    Es war so: Nur wenn der besoffene Weber im Foyer die Aufsicht hatte oder wenn Sukale wieder einmal ein Opfer für seine sadistischen Spielchen entdeckt hatte, war es möglich, beim Aufnehmen der Personalien zu schummeln. Jemanden absichtlich zu vergessen. Bei einer Familie ein Kind wegzulassen. Diese Personen, und nur sie, konnte man hinausschmuggeln. Aber wenn jemand erfasst war, ganz wörtlich erfasst, wenn ihn die Greifarme der Nazibürokratie einmal gepackt hatten, dann war das nicht mehr möglich. Ein Kind, von dem die SS wusste, konnte nicht einfach aus der Crèche verschwinden. Das hätte für Mellie und alle anderen, die dort arbeiteten, KZ bedeutet. Oder Schlimmeres.
    Es war unmöglich.
    Margreet Hijmans war eine starke Frau. Aber als ihr klar wurde, dass ihr Plan nicht durchführbar war, brach sie zusammen. Sie weinte nicht laut, aber ihr Gesicht war wie zerbrochen. «Nicht Louis», sagte sie immer wieder. «Nicht mein Louis. Dafür habe ich ihn nicht geboren.»
    Ich versuchte zu trösten, wo es keinen Trost gab. Hielt sie imArm und wiegte sie hin und her wie ein kleines Kind. Und plötzlich fiel mir der Requisitenkoffer aus Wiegenlied ein.
    An diesem Abend war es Grünberg, der die Liste der für Westerbork Bestimmten abhakte. Als er «Margreet Hijmans mit Sohn Louis» aufrief, stand sie bereit. Ihren Koffer in der Hand und ihr Kind auf dem Arm. Der Säugling war gegen die nächtliche Kälte in ein Tuch gewickelt, und sie presste ihn zärtlich an sich. Küsste ihn. Grünberg rief den nächsten Namen auf. Wenn mir die Zuschauer in jeder Vorstellung geglaubt hatten, dass die Puppe in meinen Armen ein Kind war, warum hätte ein ungeduldiger SS-Mann Verdacht schöpfen sollen?
    Ich habe Louis noch ein paar Mal in der Crèche besucht. Bis er eines Tages nicht mehr da war. Sein Bettchen leer. Ich habe Mellie nicht gefragt, wohin man ihn gebracht hatte. Sie hätte es mir nicht verraten. Sie sagte nur: «Wir haben einen guten Ort für ihn gefunden.»
    Louis.
    Nein, nicht Louis. «Er soll einen anderen Namen bekommen», hatte Margreet bestimmt. «Es ist sicherer für ihn.» Sie hatte alles überlegt. Auch den neuen Namen ihres Sohnes hatte sie schon bestimmt.
    Irgendwo in Holland, bei irgendeiner Familie, lebt ein kleiner Junge namens Kurt. Ich hatte nie ein eigenes Kind, aber er wird von mir übrigbleiben.
    Ich hoffe, es geht ihm gut.
     
    Morgen ist der erste Drehtag.
    Ich habe vorbereitet, was ich vorbereiten konnte. Ich weiß nicht, ob es ausreichend war.
    Um neun Uhr soll eine Aufnahmemannschaft aus Prag eintreffen. Hoffentlich spricht der Kameramann gut genug deutsch, um meine künstlerischen Intentionen zu verstehen.
    Künstlerische Intentionen. Sie machen sich lächerlich, Herr Gerron.
    Wir haben für morgen zweiundvierzig Einstellungen vorgesehen. Viel zu viel für einen Tag. Aber so wird es gewünscht, und so wird es gemacht. Die Leute aus Prag kommen von der

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