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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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festhielt. Ich weiß nicht, warum ich gerade dieser Frau zugehört habe. Ich hatte unterdessen schon Routine darin, mich loszumachen. Bittsteller mit ein paar leeren Worten abzuspeisen. Helfen konnte ich ja doch nicht.
    Vielleicht, weil sie mich an Olga erinnerte. Obwohl sie ein ganz anderer Typ war. Ein bisschen rundlich und mit auffällig hellen blonden Haaren. So wie sich Goebbels eine Arierin vorstellt.
    Ich darf nicht vergessen, Frau Olitzki noch mal daran zu erinnern, dass auf allen Anforderungen für Filmdarsteller stehen muss: Keine blonden Haare.
    In ihrer Direktheit ähnelte sie Olga. Machte sich nichts vor und redete nicht um die Dinge herum. «Sie müssen etwas für mich tun», sagte sie. Es war keine Frage und keine Bitte. Sie teilte es mir mit.
    «Ich kann Sie hier nicht rausholen.»
    Sie schaute mich an, wie mich Olga auch manchmal anschaut, wenn ich sie nicht gleich verstehe. Mitleidig.
    «Das ist mir klar», sagte sie. «Ich habe mich damit abgefunden. Man wird uns nach Westerbork transportieren. Dann weiter in ein anderes Lager. Und dort wird man uns umbringen.» Es gab viele Leute, die so dachten. Nach dem, was man von den Geiseln in Mauthausen gehört hatte, konnte man nichts ausschließen. Aber ich hatte es noch nie jemanden mit solcher Selbstverständlichkeit sagen hören.
    Ich wollte ihr widersprechen, sie beruhigen, aber sie wischte meine Einwände weg. Mit einer Geste, die mich wieder an Olga denken ließ. «Wir haben keine Zeit, uns noch etwas vorzumachen», sagte sie. «Sie haben einen Ausweis, mit dem sie die Schouwburg verlassen können. Ich möchte, dass Sie in die Crèche gehen undmeinem Sohn das da bringen. Er heißt Louis. Louis Hijmans.» Sie hielt mir ein Etwas aus braunem Stoff hin, in dem ich erst beim zweiten Hinsehen ein ungeschickt genähtes Tier erkannte. Ein Bär vielleicht oder ein Affe. «Er ist es gewohnt, dass das neben ihm im Bett liegt», sagte sie. «Sie wollten es nicht mitnehmen, als sie ihn geholt haben. Ich will nicht, dass er sich fürchtet, so ganz allein.»
    «Man sorgt gut für sie in der Crèche», sagte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. Eine Lehrerin, die einem begriffsstutzigen Schüler seine Langsamkeit nicht übelnimmt. Wieder eine Olga-Geste.
    «Darum geht es nicht», sagte sie.
    Ich hatte mir vorgenommen, mich auf niemanden einzulassen. Immer in Deckung zu bleiben. Auch fremdes Leid kann einen treffen wie ein Granatsplitter. Aber bei ihr habe ich genickt. Habe das Stofftier genommen. Habe gesagt: «Ich werde es ihm bringen. Und Ihnen berichten, was er gesagt hat.»
    «Er kann noch nicht sprechen», sagte die Frau. «Er ist fünf Monate alt.»
     
    Ich war vorher noch nie in der Crèche gewesen und fand mich nicht gleich zurecht. Im ersten Zimmer, das ich betrat, saßen etwa ein Dutzend Kinder in zwei ordentlichen Reihen nebeneinander. Wie in einem Schulzimmer, aus dem jemand die Pulte gestohlen hat. Man spielte Unterricht, um den Kindern – manche acht Jahre alt, manche zehn oder elf – durch das Vertraute der Situation ein bisschen Sicherheit zu vermitteln. Wo es einen Stundenplan gibt, ist die Welt nicht völlig aus den Fugen. Solang man lernen muss, muss es eine Zukunft geben.
    Auf die weiß gestrichene Wand hatte jemand die Landkarte von Europa gezeichnet. Nicht sehr exakt, aber man konnte die Umrisse erkennen. Eine Lehrerin – erst jetzt fällt mir auf, dass sie viel zu jung war, um wirklich Lehrerin zu sein – zeigte mit einem Bambusstock auf die einzelnen Länder und nannte ihre Namen. Niederlande.Belgien. Luxemburg. Frankreich. Sie hätte auch sagen können: «Erobert. Besiegt. Besetzt. Verloren.»
    Ich entschuldigte mich für die Störung und fragte nach den Kleinkindern. Als ein Mädchen hörte, dass ich aus der Schouwburg kam, meldete es sich, wie man das in der Schule eben tut. «Verzeihen Sie bitte», sagte die Kleine. «Sind meine Eltern noch dort?» Fragte es, wie man sich nach einem verlorenen Kleidungsstück erkundigt. Ich kannte ihre Eltern nicht, aber ich versicherte ihr, dass sie noch in der Schouwburg sein mussten. Man verschickte niemanden ohne seine Kinder. Das hätte in den Papieren unordentlich ausgesehen.
    Das Mädchen bedankte sich artig. Es sah nicht aus, als ob sie meine Beteuerungen wirklich geglaubt hätte.
    Im Hinausgehen hörte ich, wie der Unterricht wieder einsetzte. «Norwegen», sagte die Lehrerin. «Dänemark.»
    Das Zimmer für die ganz Kleinen war eine Treppe höher. Die Bettchen dicht an dicht. Nicht alle

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