Gerron - Lewinsky, C: Gerron
bin. Kam erst abends um elf wieder heraus. Wenn die Vorstellung zu Ende gespielt war. Das Plakat neben dem Eingang kündigte immer noch Wiegenlied an. Aber wir spielten längst etwas anderes. Kein gutes Stück. Viel zu viele traurige Szenen. Es war nichts mehr anderes im Repertoire. Jeden Tag dieselbe Tragödie. Mit wechselnden Darstellern.
Die Handlung stand fest, aber die Vorstellung lief nicht immer gleich ab. An manchen Tagen waren die Verzweiflungsszenen laut und heftig, an andern leise und resigniert. Der Schluss blieb immer derselbe. Viermal die Woche, immer gegen zehn Uhr abends, wurde die Straße vor dem Theater abgesperrt, eine Straßenbahn fuhr vor, und die SS bildete Spalier für die Auserwählten des Tages. Wenn die dann eingestiegen waren, jeder mit seinem Koffer – bravgemacht, Gerron! –, wenn die Straßenbahn abgefahren war und die frische Ladung Judskis unterwegs nach Westerbork, dann hatte ich Feierabend. Ging nach Hause, wie man eben von der Arbeit nach Hause geht. Während sie im Zuschauerraum die Stühle an die Wände rückten und auf Matratzen und Strohsäcken zu schlafen versuchten.
In der Nacht war ich nicht dabei. Hatte wieder einmal eine Sonderrolle. Gehörte nicht zum Ensemble, sondern gastierte nur. Besaß das weiße Armband des Judenrats, mit dem ich die Schouwburg jederzeit verlassen durfte. Einen Spezialausweis, der mich von der nächtlichen Ausgangssperre befreite. Schlief im eigenen Bett. Weil ich ja kein gewöhnlicher Judski war, sondern der Leider Bagagedienst. Der nicht deportiert werden durfte.
Bis sie dann den Judenrat aufgelöst haben, und wir alle auch in die Straßenbahn stiegen.
An was ich mich am stärksten erinnere, ist der Geruch. Der Gestank. Hunderte von Menschen in einen Saal eingesperrt, und es gab nur zwei Toiletten. Eine für Männer und eine für Frauen. Zwei Waschbecken. Im oberen Foyer, vor den Balkonen, wären noch mal zwei gewesen. Aber die hatte die SS für sich reserviert. Voor Joden verboden.
Der Gestank, und natürlich die Hände. Immer wieder die Hände. Die einen von allen Seiten anpackten und festzuhalten versuchten, wenn man durch den Zuschauerraum ging. All die Leute, die einen kannten oder kennen wollten, weil sie sich Hilfe von einem erhofften. «Sie müssen etwas für mich tun! Etwas unternehmen, damit ich hier rauskomme! Meine alte Mutter ist ganz allein, meine Kinder sind krank, dass ich überhaupt auf der Liste stand, muss ein Irrtum gewesen sein, ich bin unentbehrlich, unabkömmlich, unschuldig.» Alle, alle hatten sie gute Gründe, warum gerade sie nicht nach Westerbork gehörten, und sie hatten ja auch alle, alle recht. Es gab keinen Grund, schon gar keinen vernünftigen, warum man sie hierher verschleppt hatte. Oder doch nur den einzigen. Den Stern. Gegen Sinnlosigkeit helfen keine Argumente. Ich konnte nichts für sie tun. Aber wenn ich das nächste Mal an ihnen vorbeikam, hieltensie mich wieder fest. Flehten mich wieder an. «Ich bitte Sie, Herr Gerron, versuchen Sie es wenigstens. Seien Sie ein Mensch.»
Das war ihr Denkfehler. Wir waren keine Menschen mehr. Das hatte man uns aberkannt. Wir waren Zahlen in einer Statistik. Abhakpunkte auf einer Liste.
Über der Tür, dort, wo es vom Marmorfoyer in den Saal geht, war eine Tafel mit einem alten holländischen Spruch angebracht. Haben andere mehr Glück / als du es hast, nimm es in Kauf. / Sieh es nicht mit scheelem Blick. / Das Schicksal nimmt doch seinen Lauf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand damit getröstet hat.
Das Schicksal hatte einen Namen. Aus der Fünten. Er bestimmte, wer die briefliche Aufforderung bekam, sich zum Arbeitseinsatz zu melden. Wer ohne Vorankündigung nachts aus dem Bett geholt wurde. Oder einfach von der Straße weggefangen. Es gab einen Greifertrupp, die Kolonne Henneicke, die bekamen fünf Gulden für jeden Juden, den sie anschleppten. Später, als Judskis in Amsterdam Mangelware wurden, ist der Preis sogar noch gestiegen.
Wenn es das Schicksal ausnahmsweise gut mit jemandem meinte, wenn sich die Himmelsdramaturgen langweilten und Abwechslung brauchten, dann konnte es vorkommen, dass dieser Jemand bei der Registrierung absichtlich zufällig vergessen wurde. Die SS-Leute überließen das Listenführen dem Judenrat, und wenn sie betrunken waren, nahmen sie es mit der Überwachung nicht allzu genau. Sie waren oft betrunken. Man sorgte dafür, dass ihre Flaschen nicht leer wurden.
Wer auf keiner Liste erschien, konnte aus dem Haus
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