Gerron - Lewinsky, C: Gerron
geschmuggelt werden. Durch die Unterbühne. In den ersten Wochen, solang man ihn noch betreten durfte, auch über die Mauer des Hinterhofs. Aber das war die große Ausnahme. Und eines der bestgehüteten Geheimnisse. Nicht einmal alle Mitglieder des Joodsche Raad wussten davon. Ich war eingeweiht, weil mit den Geflüchteten auch ihre Gepäckstücke verschwinden mussten. Der Walter Süsskind hat diese Sachen organisiert. Und der Jo Spier hatte etwas damit zu tun. Der Jo ist auch in Theresienstadt. Ich muss versuchen, eine Aufgabe in meinem Film für ihn zu finden.
Mancher, dem die Flucht gelungen war, fiel ein paar Tage später dem Greifertrupp ein zweites Mal in die Hände. Passierte ein zweites Mal den Torspruch vom Schicksal, das seinen Lauf nimmt. Ehrlicherweise hätte dort stehen müssen: Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.
So viele Menschen in diesem pervertierten Zuschauerraum. Wo die Vorstellung im Parkett stattfand und die SS an der Bühnenrampe stand und zuschaute. Wenn ich auf jeden da unten hätte achten, mit jedem hätte mitfühlen wollen – das Gewicht all dieser Schicksale hätte mich unter sich begraben. Ich konnte es nur ertragen, solang zu keinem dieser ängstlichen, wütenden, verzweifelten Gesichter ein Name gehörte. Solang ich sie ansehen konnte, wie man im Kino eine Massenszene ansieht. Als ob es lauter Statisten wären. Leute, die keine Rolle spielen. Die auf dem Programmzettel nicht einzeln genannt werden. Soldaten, Händler, Volk . Ich baute mir, wie damals im Krüppelheim, eine innere Mauer auf und ging dahinter in Deckung. Die Gesichter wechselten auch viel zu schnell, als dass man mit dem einzelnen hätte vertraut werden können. Man sah nur noch Typen. Der Kümmerer, der die eigene Angst hinter der Fürsorge für andere versteckte. Der Egoist, der sich für die Nacht zwei Matratzen sicherte, auch wenn neben ihm jemand auf dem nackten Boden schlafen musste. Der Korrekte, der verzweifelt nach Regeln suchte, an die man sich halten konnte. In einer Welt, die aufgehört hatte, Regeln zu haben. Wenn man welche erfand, dann nur, um ihre Nichteinhaltung bestrafen zu können.
Ein riesiges Wartezimmer. Keiner der Patienten mit einer positiven Prognose. Man hätte in der Situation eine Menge Selbstmorde erwarten können, aber ich weiß nur von einem einzigen. Es war wohl der Anschein von Ordnung, es waren all diese Listen und Formulare, was die Menschen davon abhielt. Außerdem: Man muss allein sein können, um sich in Ruhe umzubringen. In der Schouwburg war man das nie. Selbst in der Toilette hämmerte schon nach einer Minute der nächste Ungeduldige an die Tür.
Die einzigen Gesichter, die man zu unterscheiden lernte, waren die der Wachmannschaft. Wir hatten die ganze Zeit dieselben SS-Leute. Sie genossen den Druckposten, den sie da ergattert hatten. Die Macht über andere Menschen. Ich sehe sie alle noch vor mir. Die schlechte Besetzung eines miesen Films. Da war der Grünberg, der von den andern verspottet wurde, weil sein Name einen jüdischen Klang hatte. Der ständig besoffene Weber, der am Morgen immer erst einen tiefen Schluck aus der Schnapsflasche nehmen musste, bevor seine Hände aufhörten zu zittern. Der Sukale, der sich gern von alten Leuten die Schuhe putzen ließ. Ich habe nie verstanden, warum er es so genoss, dass sie dafür vor ihm knien mussten. Der Klingebiel mit seinem verkniffenen Gesicht. Völlig verrückt war der, ein Schläger und Treter. Wenn er seine Anfälle hatte, prügelte er auf jeden ein, der in seine Nähe kam. Und der Zündler natürlich. Versprach jungen Frauen die Freilassung, wenn sie ihm zu Willen waren. Sie haben ihn dafür zu zehn Jahren verurteilt und nach Dachau verfrachtet. Wegen Rassenschande. Das war das Unverzeihliche. Hätte er die Frauen totgeschlagen statt sich mit ihnen zu vergnügen, man hätte ein Auge zugedrückt.
Eine schreckliche Zeit. Aber auch der Schrecken wird alltäglich. Der Mensch kann sich an alles gewöhnen. Ich weiß nicht, ob das ein Glück ist oder ein Unglück.
Nur an eines gewöhnte ich mich nie: Wenn unter all den fremden Leuten plötzlich ein bekanntes Gesicht auftauchte. Ein Freund. Ein Kollege. Das traf mich jedes Mal wie ein Schlag in die Magengrube.
Ich weiß, wie sich so ein Schlag anfühlt. Als wir nach Theresienstadt kamen, schaute mich in der Schleuse einer von der Wachmannschaft fragend an. Mit diesem Den-kenne-ich-doch -Blick, an den man sich als Prominenter gewöhnt. Ich reagierte ganz
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