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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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achten müsste! – und gab dann ein Zeichen. Scheinbar desinteressiert und mit nur zwei Fingern. So wie Max Reinhardt manchmal unwichtige Statisten dirigierte. Ich trillerte also ein zweites Mal auf meiner Pfeife, und diesmal durften sie wirklich losmarschieren.
    Wir haben dreiundsechzig Einstellungen gedreht. Dreiundsechzig. An einem einzigen Tag. In der Ufa hätte ich dafür eine Gehaltszulage bekommen.
    Die Leute aus Prag sind ganz tüchtig. Der erste Kameramann, er heißt Fric, hat ein gutes Auge. Die zweite Kamera macht ein junger Mann. Noch sehr unerfahren, scheint mir. Der Fric versteht schnell, was ich von ihm will. Obwohl ich ihm keine direkten Anweisungen geben darf. Das duldet die SS nicht. Ein Judski hat einem Arier keine Befehle zu erteilen. Wir haben aber einen gangbaren Weg gefunden, der auch nicht absurder ist als der ganze Film: Ich mache dem Chef der Aktualita Vorschläge, sehr unterwürfige Vorschläge, und er gibt sie an den Kameramann weiter.
    Trotz dieser Umständlichkeit: Dreiundsechzig Einstellungen! Um die Hälfte mehr als vorgesehen. Nur die Sequenz Zuschauer strömen zum Fußballspiel hat nicht mehr reingepasst . Wir werden sie irgendwann einschieben müssen.
    Bei der Ufa bin ich immer zusammen mit der technischen Mannschaft in die Kantine gegangen. Man kann dort eine Menge bereden. Aber als die Kollegen aus Prag die Linsenextraktsuppe rochen, haben sie doch lieber die Einladung der SS angenommen.
    Es hat dann auch ohne Besprechung alles geklappt. Vorbereitung ist alles. Das war schon bei der Ufa meine Stärke.
    Einen Moment gab es, einen wunderbaren Moment, den würde ich gern noch einmal erleben. Am liebsten jeden Tag. Wir bereiteten gerade die Anfahrt des Feuerwehrautos vor, da gingen die Sirenen los. Nicht der Feueralarm, den ich bestellt hatte, sondern die großen Sirenen. Fliegeralarm.
    Für Judskis gibt es natürlich keine Luftschutzkeller. Und die SS-Leute wussten nicht, ob sie vor Rahm oder vor den Flugzeugen mehr Angst haben sollten. Es war eine Wohltat, sie dabei zu beobachten, wie sie immer wieder ängstlich zum Himmel blickten. Die Herren der Schöpfung hatten die Hosen voll.
    Es ist dann eine ganze Schwadron von Flugzeugen über uns hinweggezogen. Heißt das Schwadron? In meiner Militärzeit waren es immer nur einzelne. Man konnte die Hoheitszeichen an den Flügeln nicht erkennen, aber deutsche waren es nicht.
    Wir haben weiter gedreht. Was hätten wir sonst tun sollen? Die Maschinen sind Richtung Osten geflogen.
    Es gibt hier in Theresienstadt zwei Namen für die neuesten Gerüchte, JNA und JMA . JNA heißt Jüdische Nachrichten-Agentur . Sie glaubt das Ziel der Maschinen ganz genau zu kennen. «Die Eisenbahnstrecke nach Auschwitz wollen sie bombardieren», heißt es. «Keine Osttransporte mehr. Keine Deportationen.»
    Ich befürchte, dass JMA die passendere Bezeichnung ist. Jüdische Märchen-Agentur .
    Aber es war ein schöner Moment.
    Nach Drehschluss haben wir uns noch die vorgeschlagenen Nummern für die Kabarettaufnahmen angesehen. Stretter ist als Chaplin sehr komisch. Sogar Rahm hat gelacht. Er war schon wieder gnädig gestimmt. Seine Spielzeugeisenbahn macht ihm Spaß.
     
    Regen. Den ganzen Vormittag lang. Wir mussten die Aufnahmen abbrechen. Eppstein war außer sich, weil heute doch die Tomatenernte gedreht werden sollte. Als ob sie ihn dafür verantwortlich machen könnten, dass sich das Wetter nicht an den Drehplan hält.
    Eppstein kennt die SS. Wenn sie einen Sündenbock braucht, kann es gut sein, dass man ihn in der Rolle besetzt. Wir sind Judskis und deshalb automatisch an allem schuld. Wir haben ja auch den Krieg angezettelt. Ich und Olga. Zusammen mit dem alten Herrn Turkavka von der Klowache. Rädelsführer war der kleine Junge, den wir gestern auf seinem Schaukelpferd aufgenommen haben. Er ist so begeistert losgeritten wie ich damals auf meinem Isabellenschimmel. Als ob er in eine andere Welt hineinreiten könnte. Aber es gibt keine andere Welt. Nur diese eine. Wo man schon Vierjährige einsperrt und zu Verbrechern erklärt. Weil sie die falschen Eltern haben.
    Wenn Papa nicht Gerson geheißen hätte, sondern vielleicht Gerhard, wenn unser Stammbaum in einem anderen Wald gewachsen wäre, «fünf Generationen Pastorentöchter», wie Otto das immer nannte, dann müsste ich mir jetzt keine Gedanken darüber machen, ob man Tomaten auch bei strömendem Regen pflücken darf. Man darf natürlich nicht. In der heilen Welt, die Rahm bestellt hat, scheint immer die

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