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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Sonne. Stattdessen würde ich in Babelsberg eine Happy-End-Schnulze drehen, die Zigarre im Mund. Und den von Neusser würde ich zum Kaffeeholen schicken.
    Ich habe in der Abstammungslotterie die Niete gezogen. In der Schicksalsverlosung. In der es keine Rolle spielt, was für ein Mensch du bist oder wie du dich im Leben benimmst. Als der Storch mich abgeliefert hat, war schon alles entschieden. Nicht Gerhard, sondern Gerson. Der falsche Rabbi, der solche Sachen weiß, hat mir erklärt, was der Name bedeutet. «Er kommt aus dem Hebräischen», hat er gesagt. « Ger schom . Zu deutsch: Ein Fremder dort. » Ein Außenseiter. Einer, der nicht dazugehört. Wenn es nach den Nazis ginge, müssten wir alle so heißen.
    Es geht nach den Nazis.
    Das Verrückte ist: Sie haben sich den ganzen Rassenscheiß nichtnur ausgedacht, weil sich damit Politik machen lässt. Das könnte man noch verstehen. Nein, sie glauben tatsächlich daran. So fest und ohne jeden Zweifel, wie man nur an völligen Unsinn glauben kann. So einen kannst du dreimal hintereinander aus einem brennenden Haus retten, und er wird immer noch überzeugt sein, dass eine jüdische Gemeinheit dahintersteckt.
    Schlechtes Wetter? Der Jud ist schuld. Derselbe Mensch, vor dem sie höflich den Hut lüften würden, wenn er kein J im Ausweis hätte.
    Wie damals bei Camilla Spira. Die sie über Nacht entjudifiziert haben. Plötzlich war sie nicht mehr der letzte Dreck, sondern eine gnädige Frau. Gemmeker soll ihr sogar die Hand geküsst haben.
    Als ich in Westerbork ankam, trug sie noch den gelben Stern. Gehörte zum Ensemble der Berliner Kollegen, die dort Revue machen durften. Machen mussten. Ich habe sie selber auftreten sehen. Camilla trug ein kurzes Röckchen und schwang die Beine mindestens so hoch wie die Mädchen vom Ballett. Die Leute haben im Takt mitgeklatscht. Ein ganz nettes Liedchen. Wenn ein Paketchen kommt, dann freut sich groß und klein. Da würden wir in Theresienstadt auch applaudieren. Zu uns kommen schon lang keine Pakete mehr. Nicht einmal Paketchen.
    Damals wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass Camilla über Nacht zur Arierin werden könnte. Sie selber wohl am wenigsten. Nicht bei dem Vater. Ich kenne den Fritz Spira gut. Wir haben ein paar Filme zusammen gedreht. Ich kannte ihn, muss es wohl heißen. Ich habe ihn gekannt. Sie sollen ihn in Österreich erwischt und nach Osten deportiert haben. Egal.
    Camilla war ohne jeden Zweifel Halbjüdin. Mischling ersten Grades. Bis sie dann eines Tages zu Gemmeker bestellt wurde.
    Ich war nicht dabei, und der Max Ehrlich, der es mir erzählt hat, auch nicht. Aber die Geschichte ist so unglaublich, dass sie wahr sein muss.
    «Gnädige Frau», soll Gemmeker gesagt haben, «ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie nicht die Tochter Ihres Vaters sind.» Und ihr eine Schere hingehalten haben.
    Ihre Mutter war in Berlin zum Notar gegangen und hatte eidesstattlich versichert, Camilla sei das Produkt eines Seitensprungs mit einem deutschen Volksgenossen. Worauf ihre Tochter noch schneller arisiert wurde als Papas Firma. Mit der Schere durfte sie sich an Ort und Stelle den Stern abtrennen. Ritsch, ratsch, und schon war sie keine Saujüdin mehr, sondern eine hochgeachtete germanische Künstlerin. Gemmeker verabschiedete sie mit Handkuss und ließ sie im Dienstwagen zum Bahnhof bringen. Obwohl sich nichts verändert hatte. Überhaupt nichts. Außer seiner Vorstellung von ihr.
    Olga hat damals gesagt: «Wenn sie mal in den Himmel kommt, wird sie nicht wissen, vor welcher Tür sie sich anstellen soll.»
    Es ist alles so vollkommen sinnlos. Wenn es die Züge nach Auschwitz nicht gäbe, könnte man darüber lachen.
    Gegen Mittag kam die Sonne wieder raus. Die Tomatenernte ist im Kasten. Pralle, saftige Tomaten. Ich würde auf zehn Jahre Leben verzichten, wenn ich noch einmal in eine reinbeißen dürfte.
    Ich weiß bloß nicht, ob ich noch so viel auf meinem Konto habe.
     
    Frau Olitzki soll den Drehbericht tippen, aber sie sitzt nur da und heult. Es hat ihr nicht gefallen im Egerbad. Sie ist auf das Drehbuch reingefallen.
    Fröhliches Badeleben , hatte ich diktiert. Sie hat es geschrieben, und beim Schreiben hat sie es sich vorgestellt. Hat es sich ausgemalt. Familienausflug zum Wannsee. Nein, nicht Wannsee. Sie war ihr ganzes Leben nicht in Berlin. Was sie eben in Troppau für einen See haben. Oder Teich. Darum hat sie mich gelöchert, dass ich sie unbedingt für die Sequenz anfordern soll. Sie war zu

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