Gerron - Lewinsky, C: Gerron
oft im Kino. Hat zu viele Happy Ends gesehen. Jetzt glaubt sie daran. Obwohl sie doch von Anfang an bei der Planung dabei war. Hat den Unterschied zwischen Film und Wirklichkeit nicht begriffen. Bis heute. Jetzt versteht sie ihn.
Es fing schon damit an, dass wir das Wichtigste für die Sequenz vergessen hatten. Nicht nur ich, sondern alle. Einfach nicht darangedacht. Da lebt man schon so lang im Lager, und der Kopf ist immer noch nicht angekommen. Immer noch nimmt man Dinge für selbstverständlich, die es schon lang nicht mehr sind.
Fröhliches Badeleben? Da weiß man als Regisseur, wie das geht. Man bestellt sich die Leute, die man braucht, und schickt sie ins Wasser. Hält die Kamera drauf. Ganz einfach.
Nur – und das war uns allen nicht in den Sinn gekommen: In ganz Theresienstadt gibt es keinen Badeanzug. Wozu auch? Wir sind in einer Festung eingesperrt. An den Fluss kommen wir nicht heran. Auf eine Bewilligung fürs Brausebad wartet man Wochen, und dann stellt man sich nackt unter die Dusche. Auch im Kleiderlager fand sich nichts. Wer den einzigen erlaubten Koffer mit dem Allernötigsten vollstopft, denkt zuletzt an Strandvergnügungen.
Aber alles geht, wenn es gehen muss. Die Wochenschau-Leute haben die Anzüge heute Morgen aus Prag mitgebracht. Womit sich die Frage, ob man in meinem Film mit oder ohne Judenstern schwimmen geht, von selber erledigt hat. Es wäre keine Zeit mehr gewesen, welche anzunähen. Anzüge und Badekappen. Es hat mir niemand gesagt, wo die Sachen herkommen. In einem Lagerhaus abgeholt, nehme ich an. Gut organisiert, wie sie nun mal sind, werden sie den Raub aus den geplünderten jüdischen Wohnungen ordentlich sortiert haben. Schuhe hier, Mäntel dort. Ein Regal voller Kinderkleider und eins voller Badeanzüge. Ordnung ist das halbe Leben.
Mehr als ein halbes ist es schon lang nicht mehr.
Die bestellten Statisten waren pünktlich zur Stelle. Die Abteilung Freizeitgestaltung funktioniert. Auch so eine Ironie, dass ausgerechnet die Freizeitgestaltung für den Film zuständig ist. Als ob in Theresienstadt nicht jedes Wort, in dem die Silbe frei vorkommt, ein schlechter Scherz wäre. Meine Darsteller waren vor Ort, aber wir konnten mit dem Dreh nicht pünktlich beginnen. Zuerst einmal brach Chaos aus.
Fast hundert Menschen, ein Stapel gebrauchter Badewäsche, keine Umkleidekabinen. Und das alles unter den Augen der ungeduldigen SS. «Es war ekelhaft», sagt Frau Olitzki und heult in ihre Schreibmaschine. «Die Anzüge waren nicht einmal gewaschen.»Sie rochen noch nach Menschen, die schon lang auf Osttransport gegangen sind.
Und ich musste etwas daraus machen, das wie Lebensfreude aussah. Ich hab das Fräulein Helen baden sehn, das war schön.
Filmen heißt lügen. Was die Kamera nicht erfasst, existiert nicht.
Die ganz große Totale, die ich mir als erste Einstellung vorgestellt hatte, musste ich weglassen. Sonst wären die Boote links und rechts von den Schwimmern ins Bild gekommen. SS-Wachen mit Gewehren sind nicht die idealen Versatzstücke für eine Badeidylle. Ich deutete den Bildausschnitt mit zwei Händen an, und der Fric hat genickt. Wir verständigen uns jetzt mit Zeichen. Es geht schneller so.
Ich darf nicht vergessen, mich bei der Freizeitgestaltung zu bedanken. Sie hat mir die richtigen Leute ausgesucht. Noch nicht so ausgehungert wie die meisten in Theresienstadt. Im Badedress wäre das aufgefallen. Man hat mir viele Neuankömmlinge geschickt, noch nicht von der Zwangsdiät gezeichnet. Da kann man Waden sehn, rund und schön im Wasser stehn.
Unser Wasserspringer war mal tschechischer Meister. Er hat sich bei mir entschuldigt, weil er den Salto nicht sauber hingekriegt hat. Es war ihm peinlich. «Sonst spring ich Ihnen so was zwanzig Mal hintereinander», hat er gesagt. «Aber das Hungern schlägt mir aufs Gleichgewicht.»
Frau Olitzki ist, vielleicht weil sich das nach Freiheit anfühlte, ein paar Züge unter Wasser geschwommen. Sie hat die Richtung verloren und ist direkt neben einem der Boote aufgetaucht. Ein SS-Mann hat sie angeschnauzt. Ich konnte nicht verstehen, was er zu ihr gesagt hat, aber seither weint sie. Ich musste sie aus dem Bild winken. Ihr Gesicht hätte mir die Einstellung verdorben.
Hinterher hatte es das Wachkommando eilig. Sie wollten pünktlich zum Essen zurück sein. Vielleicht gibt es heute die so filmwirksam geernteten Tomaten. Sie haben die ganzen Kleider auf einen Wagen geschmissen, und die Leute mussten in den fremden Badesachen in
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