Gerron - Lewinsky, C: Gerron
schweigen würde und ihre Fragen nur denken, ich würde sie hören. Wir kennen uns zu gut.
Wenn das Projekt abgesagt ist, wenn jemand weiter oben in der Pyramide es nicht mehr haben will, dann wird Rahm nicht zufrieden sein. Dann bin ich für ihn ein Teil von einem Misserfolg. Es ist schon sein zweiter Anlauf zu diesem Film. Den ersten haben sie nie fertiggedreht. «Die Leute, die das versaut haben, sind nicht mehr hier», hat er gesagt.
Sie haben die Gleise nach Auschwitz doch nicht bombardiert.
Ich brauche die Arbeit an dem Film, um im Lager zu bleiben. Um für Rahm nützlich zu sein. Wenn die Kuh keine Milch mehr gibt, wird sie geschlachtet.
Geht nervös hin und her . Ich bin der erste, der das im Sitzen spielt. Ha ha ha.
So eine Unterbrechung kann tausend Gründe haben. Harmlose Gründe. Zum Beispiel … Zum Beispiel …
Warum fällt mir nichts ein?
Vielleicht sind die Leute von der Aktualita nicht frei. Werden für etwas anderes gebraucht. Ein großer Aufmarsch in Prag, der in die Wochenschau muss. Eine Parteiveranstaltung.
Nein. Das wäre gestern gewesen. Am Wochenende. Heute ist Montag.
Das Wetter ist wieder schlechter geworden. Vielleicht wollen sie warten, bis …
Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ich baue mir nur ein Labyrinth, in dem ich mich dann verlaufe. Ich weiß nicht, was passiert ist, und werde es nicht herausfinden. Ich muss warten, bis man mir etwas sagt.
Wenn man mir überhaupt noch etwas sagt. Vielleicht bin ich schon nicht mehr wichtig genug dafür.
Ich hasse dieses Gefühl. Ich ertrage es immer weniger. Es wird mich noch umbringen. In Westerbork haben sie mich auf Amöbenruhr behandelt, aber ich weiß: Es war die Ungewissheit.
«Bitte saubermachen», ruft Herr Turkavka.
Ich müsste schon längst zur Latrine. Aber ich habe mich hier zur Verfügung zu halten. In meiner Ubikation. Wenn Rahm mich rufen lässt, und ich sitze genau dann auf dem Donnerbalken …
«Du übertreibst», hat Olga gesagt. «Natürlich werden sie den Film zu Ende drehen.»
Oder doch nicht.
Angst ist eine Krankheit, die immer wieder neu ausbricht. Das Wechselfieber der Seele. In Westerbork befiel sie die Menschen in einem Rhythmus von exakt sieben Tagen. Nach jedem überstandenen Anfall eine kurze Phase der Beruhigung, des scheinbaren Wohlbefindens. Dann der nächste Anstieg des Fiebers. Die nächste Panik. Immer am Montag.
Am Dienstag, gegen Mittag, ging der Osttransport ab. Nach Auschwitz oder Theresienstadt. Manchmal nach Bergen-Belsen. Wenn die Viehwaggons endgültig verschlossen waren, verriegelt, wenn niemand mehr ein Stück Kreide in die Hand nahm, um die Zahlen auf den Türen zu verändern, sechzig, siebzig, achtzig Personen – 8 Pferde oder 40 Mann , das ist lang her –, wenn sich der Zug endlich in Bewegung gesetzt hatte, wenn der Dampf aus der Lokomotivenur noch Erinnerung war, dann verging das Fieber. Dann war man befreit. Erlöst. Übermütig. So wie wir uns als Soldaten gefühlt haben, wenn wir aus dem vordersten Graben zurückkamen, und wir waren noch am Leben. Natürlich hatten wir Mitleid mit denen, die es erwischt hatte. Aber nur im Kopf. Nicht im Bauch. Nicht dort, wo die Gefühle sitzen.
Es wurden nie so viele schweinische Witze gerissen wie bei einer solchen Rückkehr ins Quartier. Wenn das Leben gegen alle Erwartung doch noch weitergeht, denkt man zuerst an Fortpflanzung.
In Westerbork spielt man Kabarett. Immer am Dienstagabend.
Mittwoch war Lageralltag. Donnerstag auch noch. Am Freitag ließ sich die Illusion, dass diese Woche, anders als alle andern, ewig dauern würde, nicht mehr aufrecht erhalten. Spätestens am Samstag brach das Fieber wieder aus. Der nächste Schub. Malaria westerborkiana.
Am Montagabend, das wusste man, würden in den Baracken wieder die Namen verlesen werden. Die Urteile. Hat sich für den Transport bereitzuhalten .
In Theresienstadt verteilen sie die Transportverständigungen auf schmalen Papierstreifen. Nudeln nennt man sie.
Jede Woche tausend Leute. Westerbork ist ein zuverlässiger Betrieb. Berlin ordnet an, Amsterdam bestellt, und Westerbork liefert. Eine Waggonladung nach der andern. Zuverläßig und präzis. Menschen in guter Qualität. Kräftig und gesund. Mit garantiert nicht mehr als vierzig Grad Fieber. Die Lieferungen sind ja schließlich für den Arbeitseinsatz bestimmt.
Heißt es.
Aber selbst Krankheit schützt nicht immer vor Transport. Wenn das Menschenmaterial nicht ausreicht – und es reicht nie aus –, füllt man die
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