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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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fährt mit?» Dann wischte er mir mit seinem Taschentuch die letzten Tränen ab – es roch, wie alles an ihm, nach Vertrautheit und Zigarren – und begann zu erzählen.
    Früher einmal, sagte Großpapa, als die Welt so neu war, dass man die frische Farbe noch riechen konnte, hatten alle Menschen drei Beine und fielen deshalb nie hin. «Mit drei Beinen ist man stabil», sagte er, «das wird dir jeder Küchenhocker bestätigen.» Aber drei Beine, erzählte er weiter, haben auch einen Nachteil: Man kommt mit ihnen nicht gut voran. Immer zwei verbünden sich gegen das dritte, und man läuft nur noch im Kreis. Es hätte viel zu erkundengegeben in dieser frischgebauten Welt, aber die Menschen mussten zusehen, wie die Tiere sie überholten und die besten Stücke für sich selber aussuchten: der Bär den Wald, der Löwe die Savanne und der Wal das Meer.
    Und darum, sagte mein Großvater, beschlossen die Menschen eines Tages, ihr drittes Bein abzuschneiden. Das war nicht schwierig und tat auch nicht weh. Die Welt war jung und ihre Bestandteile noch nicht so festgebacken wie heute. Man kann auch einen Ziegelstein mit bloßer Hand verschieben, solang der Mörtel weich ist.
    Jetzt war es den Menschen viel wohler, und sie rannten sofort los. Sie hatten es eilig, weil sie den Tieren die besten Stücke der Welt nicht gönnten. Wollten alles für sich selber haben. Den Wald und die Savanne und das Meer.
    Aber mit nur zwei Beinen ist man nicht im Gleichgewicht, und darum fielen sie, einer nach dem andern, auf die Schnauze. Dem König rutschte die Krone vom Kopf, dem Richter das Barett, und der General landete in einer Brombeerhecke, wo ihm die Dornen sämtliche Orden von der Brust rissen. «Das kommt davon», sagte Großpapa und ließ mich in sein Taschentuch schneuzen, «wenn man ohne drittes Bein einfach so losrennen will.»
    «Und die abgeschnittenen Beine?», fragte ich. «Was haben sie mit denen gemacht?»
    «Die sind immer noch da. Nur verstecken sie sich, weil sie jetzt Angst vor den Menschen haben. Wenn man sich ganz, ganz schnell umdreht, kann man sie manchmal noch dabei erwischen, wie sie gerade hinter einer Ecke verschwinden. Wenn man nicht aufpasst, hüpfen sie einem in den Weg, und man stolpert über sie. So wie dir das passiert ist. Man sieht sie nicht kommen. Oder hast du schon einmal ein Bein ohne seinen Menschen gesehen?»
    Ja, Großpapa, das habe ich. 1915 war das. In Flandern. Beine und Arme und Köpfe. Sie hatten wohl nicht aufgepasst.
    Eine andere seiner Geschichten handelte von der Hölle. Ein Mitschüler hatte auf dem Pausenplatz erklärt, alle Juden müssten für ewige Zeiten im Fegefeuer brennen. Ich hatte ihm das zwar nichtgeglaubt – er hatte auch einmal behauptet, Frauen brächten Kinder durch den Bauchnabel zur Welt –, aber die Vorstellung eines ewigen Feuers faszinierte mich. Papa durfte ich nicht danach fragen; es hatte mit Religion zu tun, und die verachtete er. Also ging ich zu Großpapa, und der erklärte mir die Hölle so:
    Wenn ein Mensch erschaffen wird, geschieht das immer in doppelter Ausführung. Einmal in Fleisch und Blut und einmal als Bild, das ihn so zeigt, wie er werden kann, wenn er aus seinen angeborenen Talenten und Fähigkeiten das Bestmögliche macht. Dieses Bild wird sein ganzes irdisches Leben lang aufbewahrt, in einer Art himmlischer Kunstgalerie. Wenn er dann gestorben ist, muss er sich davor hinstellen und es mit dem vergleichen, was er wirklich geschafft hat. Dann erkennt er den Unterschied zwischen dem, was er hätte werden können, und dem Scheiß, den er tatsächlich zusammengelebt hat – und das ist die Hölle. «Glaub mir, Kurtchen», sagte er, «das tut mehr weh als jedes noch so heiße Feuer.»
    Du hast mich nicht angelogen, Großpapa.
     
    Eine der Geschichten, die mir mein Großvater erzählte, führte dazu, dass meine Eltern die Polizei alarmierten. Und dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Nougat aß.
    Ich hatte ihn gefragt, warum er Riese hieß, Emil Riese, obwohl er doch gar kein besonders großer Mann war. Mein Großvater nahm solche Fragen ernst, das war das Wunderbare an ihm. Oder gab einem doch das Gefühl, man würde damit ernstgenommen. Ich war damals in dem Alter, wo man noch ganz optimistisch glaubt, alles in der Welt müsse einen logischen Grund haben, und der ließe sich auch herausfinden. Wenn ich es mir recht überlege, gar keine so andere Einstellung als die meines Vaters mit seinem Konversations-Lexikon. Warum? ist die optimistischste Frage der

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