Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Welt. Weil sie die Möglichkeit einer sinnvollen Antwort voraussetzt.
Also: warum Riese? Mein Großvater antwortete mir, wie es seine Art war, mit einer Geschichte. Er erzählte sie im Flüsterton, denn er verriet mir damit, wie er sagte, ein ganz großes Geheimnis. Er seinämlich – das dürfe ich aber, großes Indianerehrenwort, niemandem verraten – tatsächlich ein Riese und eigentlich mehr als drei Meter groß. Aber solche Überlänge sei lästig in einer Stadt wie Berlin, man stoße sich überall den Kopf und müsse dauernd gebückt herumlaufen. Davon bekomme man dann Rückenschmerzen, und wenn man zum Arzt gehe, habe der nicht einmal eine genügend lange Liege. Darum hätten sich die Berliner Riesen zusammengesetzt und ein für allemal beschlossen, sich klein zu machen. Es gebe dafür Schrumpf-Pillen, davon müsse er jeden Morgen vor dem Frühstück eine einnehmen und dürfe das ja nie vergessen. Denn sonst fange er sofort wieder an zu wachsen, und spätestens gegen Mittag platzten dann schon die ersten Nähte an seinem Anzug.
«Und warum heiße ich Gerson?», fragte ich.
«Das wusste ich einmal», sagte mein Großvater und zündete sich umständlich eine Zigarre an. Wie es Schauspieler tun, wenn sie hoffen, nach ein bisschen Spielastik würde ihnen der Text schon wieder einfallen. «Ich hatte einmal ein Buch, da stand es drin. Aber dann sind Räuber gekommen und haben es gestohlen. Soll ich dir die Geschichte von den Räubern erzählen?»
«Nein», sagte ich. «Ich will eine Gerson-Geschichte hören!»
Und mein Großvater – wie konnte es anders sein? – wusste tatsächlich eine Gerson-Geschichte. Sie handelte vom Hoflieferanten Hermann Gerson, der in seinem Atelier am Werderschen Markt den Krönungsmantel für Kaiser Wilhelm geschneidert hatte. «Damals war der zwar erst König, aber das ist eine andere Geschichte.» Es war der schönste Mantel, den jemals ein Herrscher getragen hatte, und er verbarg den verkrüppelten Arm so gut, dass man überhaupt nichts davon sah. Der Schneider Gerson hätte einen glänzenden Orden dafür bekommen sollen. Aber er bekam ihn nicht mehr, denn er war, noch während der Krönung, ganz plötzlich gestorben. «Und weißt du warum?», fragte mein Großvater. «Weil er seine Arbeit zu gut gemacht hat!»
Der alte Fritz – auch ein König, aber ein toter – hatte sich die Feierlichkeit von seiner Wolke herunter angesehen. Als er den Mantel erblickte, mit all dem Samt und der Seide und den Goldstickereien,da wurde er so eifersüchtig, dass er den Schneider Gerson sofort zu sich in den Himmel holte. Damit der ihm einen noch prächtigeren mache. «Ja, und dort sitzt er nun, der Hermann Gerson, und arbeitet an seinem neuen Auftrag.»
«Ist er mit uns verwandt?», fragte ich. Es wäre alles nicht passiert, wenn mein Großvater ehrlich «Nein» gesagt hätte. Gersons gibt es wie Sand am Meer. Aber er konnte einer guten Geschichte nie widerstehen und antwortete deshalb: «Selbstverständlich! Alle Gersons sind miteinander verwandt. Der berühmte Bazar am Werderschen Markt, du kennst ihn bestimmt, den hat eben dieser Großonkel Hermann gegründet. Wenn du dort deinen Namen sagst, schenken dir die Angestellten ein großes Stück Schokolade.»
Natürlich kannte ich den Modebazar Gerson. Meine Eltern waren schließlich in der Konfektion . Die Tischgespräche an der Klopstockstraße drehten sich oft um berufliche Themen. Dieser Bazar, so hatte ich das mitbekommen, war in der Modewelt das Maß aller Dinge, nur die teuersten Stoffe und die allerbeste Kundschaft. Was dort verkauft wurde, bestimmte, was die feine Gesellschaft trug, und eine Saison oder zwei später dann auch die Kundschaft von Gerson & Cie. Einmal war ich mit meinen Eltern daran vorbeigegangen, nach einem Geschäftsbesuch am Hausvogteiplatz, dem Zentrum der Berliner Konfektion. Vor der Tür hatte ein Mann in einer prächtigen Uniform gestanden. Der war aber kein General gewesen, sondern nur dazu da, den Kunden die Tür zu öffnen. «So eine Firma müsste man haben», hatte Papa gesagt. Aber dass das unsere Verwandtschaft war, davon hatte er mir nichts verraten.
Es war nicht der gesellschaftliche Glanz des Bazar des Modes, der mich so unwiderstehlich anlockte. Es war die Schokolade. Obwohl ich damals noch nicht diesen ständigen Hunger kannte.
Was der Name Gerson wirklich bedeutet, das habe ich erst vierzig Jahre später erfahren.
Den Weg von Max Gerson & Cie. bis zum Hausvogteiplatz meinte ich zu kennen. Ich
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